27.06.2019 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 107 / Zusatzpunkt 8

Birke Bull-BischoffDIE LINKE - Berufliche Bildung

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Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin, wissen Sie, was ich wirklich ärgerlich finde? Wenn Sie von beruflicher Bildung sprechen wie heute zum Gesetz über die Reform der Berufsbildung, dann hat man das Gefühl, bei uns sei alles eitel Sonnenschein. Probleme kommen bei Ihnen nicht vor. Was aber gesagt werden muss, meine Damen und Herren, ist: Auch in der beruflichen Bildung wird ein beträchtlicher Teil junger Menschen von guter Ausbildung abgehängt. Ich will das an drei markanten Punkten deutlich machen:

Zum Ersten. Mehr als 2,1 Millionen junge Erwachsene zwischen 20 und 34 Jahren bleiben mittlerweile gänzlich ohne beruflichen Abschluss, und das mit steigender Tendenz. Das heißt, ein Sechstel der erwerbstätigen Bevölkerung in unserem Land geht auf den Arbeitsmarkt ohne Ausbildung. Wir alle wissen, was das bedeutet: prekäre Beschäftigung, die legitimiert wird durch schlechte Qualifikation, schlechte Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen.

Zum Zweiten. 270 000 jungen Menschen wird mangelnde Ausbildungsreife zugeschrieben. Sie werden in Warteschleifen des Übergangssystems geparkt. Das betrifft vor allem junge Menschen mit Hauptschulabschluss oder junge Menschen ohne Schulabschluss. Nur 40 Prozent von ihnen schaffen überhaupt den Übergang in die berufliche Ausbildung. Auch das ist sehr oft der direkte Weg in prekäre Beschäftigung.

Zum Dritten. 24 000 junge Menschen finden gar keinen Ausbildungsplatz.

Meine Damen und Herren, wir haben also ein Problem, ein großes Problem. Wer bereits in der Schule erfolglos blieb, der bleibt es in aller Regel auch im System der beruflichen Bildung. Das geht gar nicht. Das können wir uns schlichtweg auch nicht leisten.

(Beifall bei der LINKEN)

Wo liegt das Problem? Ich finde, der Wurm steckt bereits im allgemeinbildenden Schulsystem, nämlich dort, wo Kinder sehr viel zu früh auf ein Bildungsgleis gesetzt werden, von dem sie am Ende ohne Schulabschluss ins Leben entlassen werden. Einmal mehr sei gesagt: Das gegliederte Schulsystem wirkt als Brandbeschleuniger sozialer Ungleichheit.

(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist auch Ländersache! – Stephan Albani [CDU/CSU]: Thema verfehlt! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Gibt es das eigentlich auch in Thüringen?)

Dort ist das Problem, dass noch immer nach alten Methoden gelehrt und gelernt wird, sodass für Kinder, die vor allem praktisch, und das sehr gern, lernen, die Schule zum Graus wird. Der Anspruch beruflicher Bildung muss aber sein, die Kette des schulischen Misserfolges zu beenden und auch ihnen eine Perspektive zu geben. Genau das erfüllt sich derzeit jedoch nicht.

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Frömming?

Nein.

Was brauchen wir dafür? Drei Punkte will ich nennen. Zum einen brauchen wir deutlich mehr Assistenz und Unterstützung für die jungen Leute selbst, aber genauso auch für Unternehmen, die bereit sind, denjenigen eine Chance zu geben, die benachteiligt werden oder sind. Beispielsweise heißt das konkret, dass wir Schulsozialarbeit auch für Berufsschulen brauchen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist zum Beispiel einer der Gründe, weshalb wir in der letzten Sitzung beantragt haben, das regelhaft ins SGB VIII zu übernehmen. Wir brauchen assistierte Ausbildung oder Ausbildungsassistenz. Diese muss eine Zukunft haben; denn sie ist in der Tat ein Erfolgsmodell. Aber sie muss flexibler und individueller handhabbar sein. Wir brauchen ausbildungsbegleitende Hilfen. Und wir brauchen auch Jugendberufsagenturen, um die unterschiedlichen Regelkreise, in denen junge Menschen und Ansprechpartner oft unterwegs sind, zusammenzuführen und Hilfen aus einer Hand anbieten zu können.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

All das gehört in ein Berufsbildungsgesetz, in ein Berufsbildungsgesetz für alle jungen Menschen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

„Normalität statt Maßnahme“ muss der Grundsatz sein. Es geht nicht um Sondermaßnahmen und Sondersysteme und Ähnliches, es geht um zusätzliche Ressourcen, um Geld und um Personal im Regelsystem. Das Ganze nennt sich Inklusion.

(Beifall bei der LINKEN)

Zum Zweiten. Wir brauchen ein Recht auf Ausbildung, und zwar auf vollqualifizierende Ausbildung. Das heißt, junge Leute, die ihre Berufsausbildung mit einer theoriegeminderten oder zweijährigen Ausbildung beginnen, dürfen im Anschluss nicht ausgebremst werden, weder durch die Bundesagentur für Arbeit noch durch das ausbildende Unternehmen. Sie brauchen ein Recht darauf, die verbindliche Möglichkeit, eine dreijährige Ausbildung anzuschließen. Das ist im Übrigen das Gegenteil von dem, was die AfD hier vorschlägt.

(Beifall bei der LINKEN)

Zum Dritten. Wir brauchen endlich prinzipielle Kostenfreiheit für Lernmittel. In Sachsen-Anhalt fährt jeder fünfte Azubi an der nächstgelegenen Berufsschule vorbei zur übernächsten. Einmal abgesehen davon, dass das ein riesengroßes Problem für eine vernünftige Berufsschulnetzplanung ist, führt das zu hohen Mobilitätskosten. Bus und Bahn müssen bezahlt werden. Auch die Kosten für die eigene Wohnung müssen gedeckt werden. Die Kolleginnen und Kollegen, die in der Enquete-Kommission „Berufliche Bildung“ engagiert sind, kennen das. Das wurde uns von den jungen Menschen selbst eindringlich geschildert.

Die Mindestausbildungsvergütung ist natürlich ein Schritt in die richtige Richtung, keine Frage. Sie wird die Situation einiger weniger Azubis verbessern. Aber es ist nur ein Minischritt. Es ist wahrscheinlich für die auszubildende Friseurin oder den Azubi, der zum Restaurantfacharbeiter ausgebildet wird, ein Vorteil. Aber das Brimborium, das hier veranstaltet wird, ist echt fehl am Platz; denn es wird wahrscheinlich weit weniger als 5 Prozent der Azubis betreffen.

Erfolgreiche Berufsausbildung ist der Schlüssel für gute Arbeit und guten Lohn und gegen den Fachkräftemangel und gegen Nachwuchsprobleme überhaupt. Alle jungen Menschen müssen wir dabei mitnehmen. Das muss uns ein gewichtiges Anliegen sein. Wenn wir von allen sprechen – das lässt sich leicht dahinreden –, dann müssen wir auch diejenigen meinen – wir meinen sie auf jeden Fall –, die schon in der Schule benachteiligt wurden.

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Da gibt es im Entwurf des Berufsbildungsgesetzes erheblichen Nachholbedarf.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7367464
Wahlperiode 19
Sitzung 107
Tagesordnungspunkt Berufliche Bildung
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