24.10.2019 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 121 / Tagesordnungspunkt 6

Norbert MüllerDIE LINKE - Kindergrundsicherung

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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! 2 Millionen Kinder in Deutschland leben im Hartz-IV-Bezug. Weitere 500 000 Kinder sind arm oder leben an der Armutsgrenze. Der Deutsche Kinderschutzbund sagt, dass bis zu 2 Millionen weitere Kinder in verdeckter Armut leben, weil bei ihnen die Leistungen gar nicht ankommen, obwohl sie darauf Ansprüche hätten.

Darüber hinaus haben wir, wenn mit dem 18. Lebensjahr die Kindheitsphase zu Ende ist, einen weiteren Anstieg. Gerade im Bereich der jungen Erwachsenen und der Jugendlichen haben wir nochmals einen Armutsanstieg von 5 bis 10 Prozent. Um nur eine Zahl zu nennen: Junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren, die nicht im Elternhaus leben, sind fast zur Hälfte von Armut bedroht oder arm. Wir Linken finden: Das ist ein gesellschaftlicher Großskandal. In diesem reichen Land muss kein Mensch, erst recht kein Kind und auch kein Jugendlicher, in Armut leben oder arm sein. Wir wollen, dass das endlich geändert wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch der Schattenbericht zur Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland, der diese Woche durch die National Coalition, also alle großen Kinderrechts- und Jugendverbände vorgestellt wurde, sagt: Armut ist in Deutschland die größte Kinderrechtsverletzung. – Wir Linken sagen: Armut ist institutionelle Kindeswohlgefährdung und muss abgestellt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn ich vor fünf Jahren hier zur Kinderarmut geredet habe, dann hat die Mehrheit der Rednerinnen und Redner – damals ohne FDP und AfD – gesagt, das sei nicht so schlimm, das gebe es nicht oder man habe es inzwischen erkannt und werde jetzt anfangen, Kinderarmut zu bekämpfen. Dann wurden alle möglichen Maßnahmen angekündigt, vorgestellt oder angedroht. Im Koalitionsvertrag 2013 befand sich zur Kinderarmut gar nichts. Im Koalitionsvertrag 2018 – darauf hat der Kollege Weinberg hingewiesen – gibt es eine ganze Reihe von Punkten, mit denen Sie vorgeben, Kinderarmut bekämpfen zu wollen. Ich will nur zwei Beispiele nennen, weil wir das dieses Jahr hier diskutiert und Sie mit Ihrer Mehrheit verabschiedet haben.

Sie haben gesagt, dass Sie erstens den Kinderzuschlag und zweitens das Bildungs- und Teilhabepaket reformieren wollen. Den Kinderzuschlag nimmt nur ein Drittel in Anspruch. Momentan ist überhaupt nicht zu erwarten, dass der Anteil höher wird. Die Bundesregierung rechnet sogar damit, dass bei ihrer Reform des Kinderzuschlages die Zahl der Inanspruchnahmen gar nicht steigt; denn dafür haben Sie im Haushalt gar nicht vorgesorgt.

Beim Bildungs- und Teilhabepaket kam mit den Evaluierungen 2014 und 2016 heraus: Seit Einführung des Bildungs- und Teilhabepaketes, das Sie ja noch ein bisschen ausbauen wollen, sind die Zahlen der Inanspruchnahmen sogar rückläufig. Das heißt, die Instrumente, die Sie als Große Koalition nutzen, um Kinder- und Jugendarmut zu bekämpfen, sind völlig wirkungslos. Deswegen frage ich die Verantwortlichen von CDU, CSU und SPD: Wo ist eigentlich der Rückgang der Kinderarmut, wenn Sie doch seit fünf Jahren engagiert den Kampf gegen sie führen?

(Beifall bei der LINKEN)

Der grüne Antrag, der heute vorgelegt wurde, ist verdient. Er ist deswegen verdient, weil er in vielen Fragen grundsätzlich an die Problematik herangeht und sich nicht mit Phantomdebatten wegdrückt. Er basiert im Wesentlichen auf drei Bausteinen: erstens auf einer Reform des Kindergeldes, zweites auf einer Weiterentwicklung des Kinderzuschlages – das wird alles umbenannt; ist aber nicht so wichtig – und drittens auf der Forderung nach einer Neuberechnung des Existenzminimums. Ich möchte zu allen drei Punkten kurz Stellung nehmen.

Erstens. Die Reform des Kindergeldes: Die Grünen fordern hier – das ist eine Forderung, die Sie erfreulicherweise von uns übernommen haben –, dass das Kindergeld so hoch sein soll wie die maximale steuerliche Entlastung aus dem Kinderfreibetrag. Was heißt das eigentlich? Der Kinderfreibetrag stellt das Existenzminimum eines Kindes am Einkommen der Eltern steuerfrei. Ein Existenzminimum darf logischerweise nicht besteuert werden; denn sonst wäre es ja kein Existenzminimum mehr. Das ist prinzipiell eine gute Sache. Davon profitieren aber nur die, die eine hohe Steuerlast tragen, also diejenigen, die überdurchschnittliche Einkommen haben.

(Grigorios Aggelidis [FDP]: Die zahlen ja auch mehr!)

Diejenigen, die wenig oder gar keine Steuern zahlen, haben davon natürlich überhaupt nichts. Deswegen haben wir in Deutschland das Kindergeld. Die maximale steuerliche Entlastungswirkung aus dem Kinderfreibetrag liegt aber bei fast 300 Euro. Das Kindergeld liegt jetzt bei 204 Euro. Das heißt, die Kinder von einem Bundestagsabgeordneten – ich habe zwei davon – sind dem Steuerzahler pro Kind 300 Euro im Monat wert. Der Durchschnittsverdiener, der davon gar nicht profitiert, hat jetzt 204 Euro Kindergeld. Wir wollen – ich finde gut, dass die Grünen mitgehen und das jetzt auch beantragen – diese Gerechtigkeitslücke schließen. Das Kindergeld muss so hoch sein wie die maximale steuerliche Entlastungswirkung aus dem Kinderfreibetrag.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens wollen die Grünen den Kinderzuschlag weiterentwickeln. Das finden wir richtig. Beides wird zusammengelegt und bildet damit die Basis einer Kindergrundsicherung. Das entspricht in etwa dem, was wir in den letzten Jahren gefordert haben; auch hier gehen wir mit.

Drittens sagen die Grünen: Das soziokulturelle Existenzminimum muss neu berechnet werden, weil es nämlich zu niedrig berechnet ist. – Alle großen Wissenschaftler, alle Verbände sagen Ihnen: Das Existenzminimum ist zu niedrig. – Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider, hat mal gesagt, dass die Berechnungsgrundlagen des Existenzminimums ein „statistischer Schrotthaufen“ seien. Ich finde, wir im Deutschen Bundestag müssen dafür sorgen, dass das aufhört und die Berechnungsgrundlage eben kein statistischer Schrotthaufen mehr ist, sondern seriös geklärt wird, was ein Kind eigentlich zum Leben braucht.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Aber an anderen Stellen backen die Grünen mit ihrem Antrag etwas kleinere Brötchen. Sie bleiben nämlich erstens im Kern im Hartz-IV-System verhaftet. Wenn also in teuren Städten, wie zum Beispiel in München, die Deckung der Wohnkosten nicht ausreicht und Ihre grüne Grundkindersicherung nicht genügt, sagen Sie: Das soll über die Kosten der Unterkunft der Eltern geklärt werden. – Ich finde aber, wir brauchen eine Alternative, die über Hartz IV hinausreicht und auch von der unsäglichen KdU-Berechnung wegkommt.

(Beifall bei der LINKEN)

Und zweitens. Die Grünen fordern, das Schulstarterpaket bei 150 Euro einzufrieren. Sie wollen es unbürokratischer zur Verfügung stellen; aber sie wollen es bei 150 Euro einfrieren. Wir wissen aus einer sehr seriösen Studie, die der Landtag Schleswig-Holstein in Auftrag gegeben hat, dass eine Familie mit einem durchschnittlichen Einkommen, die sich das halbwegs gut leisten kann, pro Kind und Schuljahr ungefähr 300 Euro für den Schulbedarf und noch mal 100 Euro für die Sportsachen ausgibt. Deswegen sagen wir: 150 Euro reichen im Schulstarterpaket als Unterstützung für arme Familien nicht aus. Wir brauchen hier eigentlich 400 Euro, damit Schulbedarfe und Sportsachen auch wirklich gekauft werden können.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Mein Fazit: Der grüne Antrag bedeutet einen Fortschritt für Familien, die durchschnittliche und geringe Einkommen haben. Er bringt zwar noch keine substanziellen Verbesserungen für die richtig Armen, aber er geht insgesamt in die richtige Richtung. Deswegen finden wir ihn gut und freuen uns auf die Beratung im Ausschuss.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Maik Beermann.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7396559
Wahlperiode 19
Sitzung 121
Tagesordnungspunkt Kindergrundsicherung
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