Manuel SarrazinDIE GRÜNEN - Russlandpolitik
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Aspekt fehlt in den Anträgen, über die heute abgestimmt wird, komplett. Es wird der aktuelle Charakter des Regimes Putin komplett verschwiegen. Wir haben in den letzten Monaten erlebt, wie den Menschen in Russland bei den Kommunalwahlen nicht nur eine freie Wahl verwehrt wurde, sondern auch, wie Menschen, die für die freie Wahl demonstriert haben, zu jahrelanger Lagerhaft verurteilt worden sind. Wir haben in Russland Hunderte politische Häftlinge, zum Beispiel den jungen Familienvater, der demonstriert hat, weil ihm die freie Wahl genommen wird, und für vier Jahre in Sibirien verschwindet. Wie kann man denn heute über Russland reden, ohne nicht auch das Schicksal dieser Menschen anzusprechen?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)
Herr Ernst, Sie können hier spielen wie der Genosse der Bosse; der macht das aber noch besser. Ich möchte Ihnen eines sagen: Wenn Sie wirklich dauerhaft gute wirtschaftliche Beziehungen zwischen Europa und Russland wollen, dann setzen Sie auf einen Kurs der Demokratisierung und des Rechtsstaates in Russland
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
und nicht auf das Kuscheln mit einem Regime von Herrn Putin, das beides mit Füßen tritt.
Die Sanktionen wurden eingeführt für Verstöße, die konkret benannt worden sind. Die europäischen Sanktionen sind spezifisch gegen Personen und Institutionen gerichtet, die an der Annexion der Krim oder dem russischen Interventionskrieg in der Ostukraine teilgenommen haben. Diese Sanktionen haben natürlich wirtschaftliche Auswirkungen, zum Beispiel auf Unternehmen, die im Erdgas- und Ölbereich tätig sind, auf Unternehmen, die im Rüstungsbereich, im Dual-Use-Bereich tätig sind. Aber ich finde, diese Sanktionen sind trotzdem richtig. Ihre spezifische Wirkung zeigt sich daran, dass der Krieg von der Europäischen Union damals mit nichtmilitärischen Mitteln gestoppt wurde und auch heute noch eingeschränkt werden kann. Anstatt wie Erdogan, Putin und Trump auf Krieg zu setzen, setzt die EU auf diese Instrumente. Und das ist richtig. Das ist die richtige Außenpolitik.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Herr Kollege Sarrazin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Klaus Ernst?
(Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Der hat doch eben gesprochen!)
Gerne.
Das ist dann aber die letzte aus der Fraktion Die Linke.
Herr Kollege Sarrazin, Sie unterstellen mit dem, was Sie sagen, dass wir für die Verhältnisse in Russland wären, die Sie gerade beschrieben haben. Sonst würden Sie die Rede nicht so aufbauen und halten.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat nur gesagt, dass Sie dazu nichts gesagt haben!)
Ich habe jetzt aber eine Frage an Sie: Sind Sie denn der Auffassung, dass mit der Position, die Sie vertreten, eine Friedenspolitik von Willy Brandt überhaupt möglich gewesen wäre?
(Beifall bei der LINKEN)
Oder glauben Sie etwa, dass Russland in der Zeit vor der Friedenspolitik ein anderes, nämlich demokratischeres war als jetzt?
(Beifall bei der LINKEN)
Trotzdem hat man sich unter Willy Brandt entschieden, eine Annäherung an den Osten zu suchen, zu finden und auch erfolgreich umzusetzen. War diese Politik erfolgreich oder nicht? Ist es für unser Land nicht viel sinnvoller, nicht in die Töne des Kalten Krieges zurückzufallen, sondern an dieser Tradition festzuhalten, Herr Sarrazin? Das frage ich Sie.
(Beifall bei der LINKEN)
Lieber Herr Ernst, die Grundlage der Willy Brandt’schen Ostpolitik in den Vereinbarungen von Helsinki war das Festhalten an grundlegenden Menschenrechtsstandards.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Die Zusage der Sowjetunion, dass sich Menschenrechtsgruppen bilden dürfen, die Zusage, dass wir eine gemeinsame Wertevorstellung über Menschenrechte haben, genau diese Maßstäbe werden im heutigen Russland von Putin und seinen Kohorten mit Füßen getreten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Und Sie machen die Augen zu, Sie schauen nicht hin! Sie verteidigen diese Menschen nicht! Wir haben heute in Russland 200 politische Häftlinge. Diese werden in den Knästen gefoltert, weil sie ihren Mund aufgemacht haben, um für Demokratie einzustehen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie das anders sehen als ich. Aber ich wünsche mir, dass Sie das laut und deutlich in Moskau vortragen und sagen: Wir haben eine andere Meinung als Moskau.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)
Das wünsche ich mir. Ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie übelmeinend sind. Ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie andere Werte als wir haben. Ich unterstelle Ihnen, dass Sie
(Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Auf einem Auge blind sind!)
zu kurz denken, was den Charakter des Regimes Putin angeht. Das ist meine Kritik an Ihnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Ich möchte aber abseits von moralischen Überlegungen auch sagen: Natürlich gibt es in Moskau eine starke politische Bewegung, die sagt: Wir müssen uns dem Westen wieder annähern. Die russische Außenpolitik, die auf Aggression und auf Annexion gesetzt hat, war falsch, weil sie uns vom Westen entfremdet. – Wir erleben gerade – das wurde angesprochen –, dass in der Ostukraine Dinge möglich erscheinen. Selenskyj bewegt sich, die russische Seite bisher nicht. Ist es denn realpolitisch klug, zu diesem Zeitpunkt, in einer Situation, in der man Dinge erreichen kann, das schärfste Instrument, das man hat, einfach hinzuschmeißen? Oder ist es nicht klüger, zu sagen: „Gerade jetzt halten wir an unseren moralischen Maßstäben fest und erwarten, dass Putin sich darauf einlässt“? Wenn wir jetzt die Sanktionen aufheben, ist das eine Einladung an die russische Außenpolitik, so wie bisher weiterzumachen. Selbst wenn sie nicht sofort angenommen werden würde, wäre das Signal klar. Diese Einladung bliebe offen.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann müssen Sie auch gegen die USA Sanktionen fordern in der Konsequenz!)
Wir fordern zum Beispiel Sanktionen gegenüber der Türkei. Wir finden es richtig, dass VW sein Werk nicht in der Türkei entwickeln will, und sprechen nicht davon, dass damit die Zugangschancen deutscher Unternehmen im Hinblick auf den türkischen Markt beschädigt werden. Denselben Maßstab legen wir auch an Russland an.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Und die USA? – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was ist denn mit den USA, Herr Sarrazin?)
Gerade vor dem Hintergrund der Situation in Syrien warne ich zutiefst davor, jetzt auch Erdogan das Beispiel mitzugeben, dass wir aufgrund einer angeblichen Nichtwirkung von Sanktionen nach fünf Jahren zu diesen nicht mehr stehen.
Ich sage es noch einmal: Eine nichtmilitärische Antwort, die in der Lage war, eine militärische Aggression zu stoppen, ist ein starkes Zeichen für die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Wir können die Rechtsbrüche aus dem Kreml und von anderen anderswo nicht einfach hinnehmen und totschweigen. Herr Ernst, Lenin sagte einmal: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ Dieses Prinzip gilt jetzt erst recht für Russlands Rolle in der Ukraine.
Danke sehr.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vielen Dank, Manuel Sarrazin. – Wir haben noch drei Rednerinnen und Redner in dieser Debatte. Ich bitte, den Lautstärkepegel ein bisschen zu reduzieren und den Kolleginnen und Kollegen Ihre Aufmerksamkeit zu schenken.
Nächste Rednerin: Doris Barnett für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7396628 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 121 |
Tagesordnungspunkt | Russlandpolitik |