07.11.2019 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 124 / Tagesordnungspunkt 3

Axel MüllerCDU/CSU - Modernisierung des Strafverfahrens

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fünf Punkte in fünf Minuten.

Erstens. Vorwegschicken möchte ich, dass ich mehr als 15 Jahre Mitglied von Strafkammern war, und ich glaube, dass ich als Augen- und Zeitzeuge durchaus weiß, wovon ich hier rede. Wie war das denn Anfang der 2000er-Jahre? Die Kammer bestand in der Regel aus drei Mitgliedern. Oftmals nutzten wir den Spielraum des Gesetzes, verhandelten zu zweit. Ein Mitglied pausierte während dieser Zeit, schrieb das Urteil, schaffte uns Freiräume. Verteidiger waren im Interesse ihrer Mandanten ganz überwiegend sehr kooperativ. Konfliktverteidigung kannten wir aus juristischen Fachzeitschriften oder juristischen Seminaren. Die Sitzungen dauerten in der Regel zwei bis drei Tage. Urteile wurden häufig rechtskräftig, da alles akzeptiert wurde, weil es konsensual geregelt wurde. Entsprechend wenig schriftlicher Begründungsaufwand war erforderlich.

Zweitens. Wie entwickelte sich das Ganze? Da greife ich jetzt tatsächlich auf die Empirie zurück, Herr Kollege Straetmanns, und zwar auf den Anfang 2018 erschienenen „Strafkammerbericht“ des OLG Celle, dem die Erfahrungen von Landgerichten aus sechs Bundesländern zugrunde liegen und für den über 11 000 Strafverfahren ausgewertet wurden. Die Zahl der Hauptverhandlungstage erhöhte sich auf durchschnittlich mehr als fünf, was wegen der begrenzten Sitzungstermine und der beengten Terminkalender der Verteidiger häufig zu mehrwöchigen oder gar monatelangen Verhandlungen führt. Die obergerichtliche Rechtsprechung reduzierte die Zweierbesetzungsmöglichkeit auf ein Minimum. Im Schnitt sind über elf Zeugen zu vernehmen. Der Anteil der Haftsachen, die beschleunigt und vorrangig zu behandeln sind, beträgt mittlerweile fast 40 Prozent. Entsprechend länger bleiben Nichthaftsachen – das wurde bereits vom Kollegen Seitz angesprochen – liegen. Auch der Kollege Frei hat darauf bereits Bezug genommen.

Die Verfahrensdauer hat sich auf nahezu 300 Tage erhöht und damit verdoppelt. Wirtschaftsstrafsachen liegen manchmal jahrelang herum. Zum Teil droht sogar die Verjährung. Gerade in Haftsachen wird ganz bewusst verzögert. In über 10 Prozent der Verfahren werden Befangenheitsanträge und Beweisanträge missbräuchlich gestellt oder Besetzungsrügen erhoben, die gleich zu Beginn eines Prozesses zu einer vollständigen Blockade der Strafkammer führen und den Fahrplan des Gerichts völlig zum Erliegen bringen. Berichte, dass Straftäter die Untersuchungshaft verlassen durften oder mussten, weil die erforderliche Beschleunigung nicht mehr gewährleistet war, häufen sich.

Herr Kollege Müller, der Kollege Dr. Martens würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Ja, bitte schön.

Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie sprachen eben davon, dass 10 Prozent der Befangenheitsanträge in Landgerichtsverfahren missbräuchlich gestellt würden. Wo haben Sie diese Zahl her?

Aus dem „Strafkammerbericht“ des OLG Celle.

Und das erstreckt sich auf alle Landgerichte und auf welchen Zeitraum?

Es wurden in sechs Bundesländern insgesamt 11 000 Strafkammerverfahren ausgewertet.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Angesichts dieser Entwicklung sage ich, dass die Beschleunigung nicht mehr gewährleistet ist.

Drittens. Was folgt jetzt daraus? Der Strafprozess und mit ihm ein gutes Stück Rechtsstaat drohen doch zu scheitern. In Berlin wurde 2019 ein Rockerprozess erst nach fünf Jahren beendet. 2017 platzte in Koblenz ein Mammutprozess gegen 26 Rechtsextreme – wir haben es bereits gehört – nach vier Jahren und Millionen von Kosten, weil der vorsitzende Richter die Pensionsgrenze erreicht hatte. Wenn die Frist verlängert worden wäre, prognostiziere ich, hätte man diesen Prozess auch weitertreiben können, so lange, bis auch die Verlängerung zu Ende gegangen wäre. Das ist mir selber kurz vor dem Wechsel in dieses Haus so geschehen, als man einen Prozess so lange in die Länge getrieben hat, dass monatelange Verhandlungen vergeblich waren.

An dieser Stelle sei noch kurz auf zwei Oppositionsanträge eingegangen, auf den der FDP und den der Grünen. Videoaufzeichnungen in der Hauptverhandlung – der Herr Staatssekretär hat es angesprochen; ich sehe es kritisch –, die Digitalisierung des Strafprozesses bieten keine wirklichen Lösungen. Der Grund dafür, dass Verfahrensbeteiligte nicht ausgetauscht werden können, ist doch, dass wir einen Unmittelbarkeitsgrundsatz haben, der insbesondere für den Angeklagten sicherstellt, dass die urteilenden Personen von Anfang an bis zum Ende die gleichen sind. Sie sollen auch live dabei sein. Es steht doch die berechtigte Furcht im Raum, dass zugleich die Grundlage geschaffen wird für eine weitere Tatsacheninstanz in der Revision – da bin ich anderer Ansicht als der Kollege Reusch –, obwohl sie ausschließlich darüber wachen soll, dass das Recht eingehalten worden ist und nicht die Schuldfrage klären soll.

Viertens. Meine sehr verehrten Damen und Herren, 75 Prozent der Richter und Staatsanwälte sind der Meinung, dass die Verfahren zu lange dauern, häufig verursacht durch Hunderte von Beweisanträgen, die gar nicht selten ins Blaue hinein gestellt werden. Mit dieser Ansicht steht diese Personengruppe nicht allein. 88 Prozent der Bevölkerung teilt die Ansicht. Der NSU-Prozess hat über fünf Jahre gedauert. Die Kollegin Högl hat bereits gesagt, zu welchem Problem es aufgrund der Nebenklagen gekommen ist. Ich sage nur: Was bisher geschehen ist, reicht nicht. Wo dient die Möglichkeit, Schadensersatzgrundlagen zu schaffen, oder gar die Möglichkeit, Strafabschläge zu machen, den Opfern?

Was folgt – fünftes und letztens – daraus? Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Strafprozess müssen so verändert werden, wie es der Gesetzentwurf vorsieht. Nicht zuletzt muss eine Möglichkeit bestehen, dass man Straftätern, die als nomadisierende Einbrecherbanden durchs Land ziehen, auf die Schliche kommt. Das zum Thema DNA-Untersuchung, Frau Kollegin Bayram.

Mein Fazit: Der Gesetzentwurf ist eine richtig gute Grundlage für die weiteren Beratungen zu einer Reform, die wirklich notwendig ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Johannes Fechner, SPD, ist der nächste Redner.

(Beifall bei der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7399385
Wahlperiode 19
Sitzung 124
Tagesordnungspunkt Modernisierung des Strafverfahrens
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