08.11.2019 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 125 / Tagesordnungspunkt 26

Gregor GysiDIE LINKE - Vereinbarte Debatte - 30 Jahre Mauerfall

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Morgen feiern wir den 30. Jahrestag des Mauerfalls. Dieser 9. November 1989 ist für viele ein Tag der Freude, des Gedenkens, des Nachdenkens und der Besinnung. So zufällig und irrtümlich wie er zustande kam, so folgerichtig war es, dass der Selbstbefreiungsdrang der Ostdeutschen zum Fall der Mauer führte.

Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft. Das Reisen in viele Länder blieb den meisten Menschen verwehrt. Es gab erhebliche Einschränkungen in der Freiheit, der Demokratie, bei der Versorgung mit Waren und Dienstleistungen. Es gab auch staatliches Unrecht. Die Mauer und die tödliche Praxis der Grenzsicherung waren sein gröbster Ausdruck, der auch nicht dadurch zu rechtfertigen war, dass die Mauer die Trennlinie der Systeme markierte und von den Großmächten im Kalten Krieg als gegeben akzeptiert wurde.

(Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Schießbefehl auf eigene Menschen!)

Alle Toten dort sind nicht hinnehmbar.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Reisefreiheit war deshalb neben der Meinungsfreiheit, der Ablehnung von Zensur und Bevormundung eine zentrale Forderung der Demonstrantinnen und Demonstranten von Plauen über Berlin und Leipzig bis zum 4. November in Berlin. Man muss noch einmal in die Augen der Menschen sehen, die am Abend des 9. November vor 30 Jahren frei und ungehindert aus Ostberlin in den Westteil der Stadt strömten. Man muss sich ihre glückliche Fassungslosigkeit über die friedliche Überwindung der Mauer vor Augen rufen, um die historische Dimension der Leistungen vieler Ostdeutscher vor 30 Jahren zu erkennen.

(Beatrix von Storch [AfD]: Wer war IM-Notar? – Gegenruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach der Rede haben Sie gar nichts zu melden bei der Debatte! Überhaupt gar nichts!)

Diese Leistungen müssen ebenso wie die Leistungen der Ostdeutschen

(Lachen der Abg. Dr. Alice Weidel [AfD] – Dr. Alice Weidel [AfD]: Natürlich nicht! – Gegenruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So viel Hass, Hetze und rechtsextreme Sachen! – Zurufe von der AfD – Gegenruf von der LINKEN: Zuhören! Dann lernen Sie vielleicht noch was!)

in den Jahrzehnten zuvor und in den Jahrzehnten danach endlich angemessen gewürdigt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist auch deshalb höchste Zeit, gleiche Löhne

(Martin Reichardt [AfD]: Was haben Sie da gemacht? Waren Sie im Widerstand?)

für gleiche Arbeitszeit und gleiche Renten für die gleiche Lebensleistung in Ost und West zu zahlen. Außerdem muss es endlich gemäß Artikel 36 des Grundgesetzes so viele Ostdeutsche in Führungspositionen der Bundesbehörden geben, wie es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Bevölkerungsanteil liegt bei 17 Prozent, der Anteil an den Führungskräften nur bei 1,7 Prozent.

Der Grundstein für die Ereignisse vor 30 Jahren, die später dann zur deutschen Einheit führten, wurde mit den von Gorbatschow eingeleiteten Entwicklungen von Perestroika und Glasnost gelegt. Es ist aber auch an die Rolle von Solidarnosc in Polen, an die Flucht in bundesdeutsche Botschaften und an die Grenzöffnung in Ungarn zu denken. Deshalb muss die Erzählung früher ansetzen als beim Fall der Mauer, auch weil sich mit diesem historischen Tag der Fokus der Akteure – freiwillig oder unfreiwillig – mehr und mehr in Richtung der deutschen Einheit verlagerte. Zuvor ging es um eine Veränderung der DDR. Wie gesagt, es gab in ihr staatliches Unrecht.

(Beatrix von Storch [AfD]: Ja, und relativ viele Stasispitzel!)

Trotzdem lehne ich den Begriff des Unrechtsstaates für die DDR ab,

(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! – Dr. Alice Weidel [AfD]: Unglaublich!)

weil der frühere Generalstaatsanwalt von Hessen Fritz Bauer

(Dr. Alice Weidel [AfD]: Dass sich so jemand da vorne hinstellt! Unglaublich! – Gegenruf von der FDP: Sie dürfen doch da auch stehen!)

diesen Begriff zu Recht für die Nazidiktatur prägte.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, die Demonstrierenden wollten zumindest bis zum Fall der Mauer die DDR grundsätzlich reformieren, was möglich erschien.

(Beatrix von Storch [AfD]: Und wurden bespitzelt von Stasileuten!)

In einem Unrechtsstaat wie Nazideutschland war dies ausgeschlossen. Er konnte und musste abgeschafft werden.

(Beifall bei der LINKEN – Beatrix von Storch [AfD]: Dass Sie hier stehen, ist echt eine Schande! – Marian Wendt [CDU/CSU]: Sie haben nichts gelernt! Nichts!)

Wegen der Reichspogromnacht gedenken wir morgen auch der durch die Nazis ermordeten Jüdinnen und Juden.

(Martin Reichardt [AfD]: Dass Sie sich nicht schämen, dazu zu sprechen!)

Den Mauerfall und auch die deutsche Einheit hätte es ohne die Gründung etwa des Neuen Forums, von „Demokratie jetzt!“ und des Demokratischen Aufbruchs,

(Marian Wendt [CDU/CSU]: Waren Sie da Gründungsmitglied? Das ist doch Heuchelei!)

ohne die Demonstrationen, die in Plauen und Leipzig ihren Anfang und den Menschen die Angst nahmen

(Zuruf von der AfD: Beleidigung der Mauertoten!)

und schließlich bei der Demonstration am 4. November 1989 in Berlin ihren Höhepunkt fanden, nicht gegeben.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich muss es ganz klar sagen: Die Demonstrierenden in vielen Städten haben erfolgreich für Freiheit und Demokratie in der DDR gekämpft

(Beatrix von Storch [AfD]: Gegen Leute wie Sie!)

und die Mauer zu Fall gebracht. Nicht Helmut Kohl und seine Bundesregierung brachten das zustande; es war die Leistung der Ostdeutschen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Bereitschaft der Menschen vor 30 Jahren, bis dahin Unerhörtes einfach zu tun, mit Massendemonstrationen, neuen Parteien und Organisationen das Machtsystem der SED infrage zu stellen, ohne es gewaltsam beseitigen zu wollen, folgte einem urdemokratischen Impuls, der auch den heutigen Verhältnissen durchaus guttäte.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Runden Tische zum Beispiel waren ein demokratisches Instrument, dessen wir uns aktiv erinnern sollten bei der Lösung aktueller Probleme.

Die Friedlichkeit hatte zwei Seiten: keine Gewalt durch Demonstrantinnen und Demonstranten und der Verzicht darauf bei den Soldaten, bei der Polizei nicht gleich, aber später auch. Egon Krenz hatte wohl am Abend des 8. Oktober angeordnet, keine Gewalt mehr durch die Polizei anzuwenden. Es bleibt eine beachtliche Leistung, dass während des gesamten Umbruchs kein einziger Schuss fiel,

(Beifall bei der LINKEN)

weder durch sowjetische Streitkräfte in der DDR noch durch die Angehörigen der sogenannten bewaffneten Organe der DDR,

(Marian Wendt [CDU/CSU]: Die hatten ihre Truppen schon bereitgestellt!)

auch und gerade nicht am Abend des Mauerfalls, als an der Grenze keiner so richtig Bescheid wusste und sich Diensthabende entschieden, die Grenze zu öffnen. Beides ist zu würdigen.

(Beifall bei der LINKEN – Beatrix von Storch [AfD]: Fürs Protokoll: Dass Sie hier sprechen, ist echt eine Schande!)

Nicht Schwarz-Weiß, sondern das große Dazwischen bestimmt den Lauf der Geschichte.

(Beifall bei der LINKEN)

Die AfD – ich komme ja jetzt zu Ihnen – plakatiert die Wende 2.0 und will angeblich die Wende vollenden. Meine wenigen Damen und vielen Herren von der AfD hier, mit der Wende, mit dem Umbruch, mit der Friedlichen Revolution hatten und haben Sie nicht das Geringste zu tun.

(Beifall bei der LINKEN – Beatrix von Storch [AfD]: Von einem Stasispitzel im Bundestag müssen wir uns so was nicht sagen lassen! – Weiterer Zuruf von der AfD: Aber Sie! – Zuruf von der SPD: Bravo!)

Die Mehrheit der Ostdeutschen – hören Sie zu! – wollte die Mauer zum Einsturz bringen, nicht wie Sie die Errichtung neuer Mauern.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Mehrheit wollte ein vereinigtes Europa in Frieden, das Sie zerstören wollen. Die Demonstrierenden wollten Freizügigkeit und Toleranz und nicht wie Sie Hass, nationalen Egoismus, Rassismus und Antisemitismus verbreiten.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alice Weidel [AfD]: Von einem Spitzel, von einem Stasispitzel! Lustig!)

Abschottung und Ausgrenzung sind das Gegenteil von dem, wofür die Menschen vor 30 Jahren demonstrierten.

(Dr. Alice Weidel [AfD]: Von einem Stasispitzel! Wie witzig! – Gegenruf der Abg. Katrin Budde [SPD]: Sie haben doch gar keine Ahnung, Frau Weidel! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen doch von nichts, Frau Weidel! Sie wohnen doch in der Schweiz! – Lachen der Abg. Dr. Alice Weidel [AfD])

Gerade weil heute an den Grenzen Europas wieder Menschen sterben, die nach Freiheit, Demokratie, einem Leben in Sicherheit und mit einer wirtschaftlichen Perspektive streben, sollten wir uns daran erinnern, dass man mit Mauern und nationalem Egoismus

(Dr. Alice Weidel [AfD]: Unglaublich! Von einem Spitzel! -Weiterer Zuruf von der AfD: Mauerbauer!)

regelmäßig Probleme nur verschärft und nicht löst.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Außerdem sind Sie von der AfD feige; denn Sie bekämpfen die Schwächsten in der Gesellschaft: die Flüchtlinge. Da lobe ich mir die Linken, die den Mumm haben, sich mit den Stärksten anzulegen.

(Beifall bei der LINKEN – Beatrix von Storch [AfD]: Als Mauerschützen-Partei, die sie sind!)

Ich weiß, was die spätere Einheit Menschen in Ostdeutschland zusätzlich gebracht hat,

(Beatrix von Storch [AfD]: Da steht die Mauerschützen-Partei und verhöhnt die ganzen Opfer!)

zum Beispiel die Sanierung von Städten und Wohnungen, aber ich kenne auch die Fehler, die begangen wurden. Die Einheit hätte – so wie es Gorbatschow vorschlug – unter anderem genutzt werden können, um weder Osteuropa noch Westeuropa zu bleiben. Man hätte neutral und zu dem wesentlichsten Vermittler weltweit bei Konflikten werden können – egal ob es um den Konflikt Israel/Palästina, Russland/Ukraine oder um andere geht. Eine solche Rolle kann man übrigens auch heute trotz der NATO-Mitgliedschaft anstreben. Sie scheint mir den Wünschen der Demonstrierenden vom Herbst 1989 und dem Grundcharakter des Mauerfalls zu entsprechen. Diese Rolle wäre also vielen – auch mir – schon aus historischen Gründen, wenn ich an die Nazidiktatur und den Zweiten Weltkrieg denke, sehr sinnvoll erschienen.

(Beifall bei der LINKEN)

Stattdessen hat sich die Mehrheit im Bundestag entschieden, nicht nur in der NATO zu bleiben, sondern die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr auch mit allen Konsequenzen weltweit zu entsenden.

Außerdem wäre es vernünftig gewesen, bestimmte Momente aus der DDR wie die höhere Gleichstellung der Geschlechter, die Polikliniken, die Berufsausbildung mit Abitur für das vereinigte Deutschland zu übernehmen,

(Martin Reichardt [AfD]: Autobahn! Autobahn!)

statt die Strukturen im Osten völlig zu negieren und zum Teil sogar herabzuwürdigen. Das hätte das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestärkt

(Beatrix von Storch [AfD]: Und das grüne Ampelmännchen!)

und den Westdeutschen ermöglicht, dank des Ostens eine Steigerung ihrer Lebensqualität zu erfahren.

Herr Kollege Gysi.

Ich bin sofort fertig, Herr Präsident.

(Beatrix von Storch [AfD]: Ja, Sie sind am Ende!)

Auf andere Schwächen und Stärken der Einheit werde ich wegen der Begrenzung der Redezeit erst im nächsten Jahr eingehen. – Übrigens: Am 9. November 1918 begann mit der Ausrufung der Republik

(Dr. Alice Weidel [AfD]: Hören Sie doch bitte auf!)

die Demokratiegeschichte in Deutschland; auch daran sollten wir denken.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Fall der Mauer aber sollte uns alle mahnen, Probleme wirklich zu lösen und nicht zu versuchen, sie mit Mauern durch Einigelung vorübergehend unsichtbar zu machen.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Beatrix von Storch [AfD]: Was für eine Schande!)

Nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7400310
Wahlperiode 19
Sitzung 125
Tagesordnungspunkt Vereinbarte Debatte - 30 Jahre Mauerfall
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine
Automatisch erkannte Entitäten beta