Johannes VogelFDP - Soziale Garantien
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da die Kollegin Kipping eben zu Recht sagte, dass die Interpretation eines Gerichtsurteils kein kreativer Ideenwettbewerb sei, sondern Seriosität voraussetze, möchte ich zu Beginn der Debatte festhalten:
Erstens. Sanktionen sind nicht verfassungswidrig. Alle sind zur Hilfe gegenüber allen verpflichtet, die diese Hilfe brauchen; aber jeder hat auch die Verantwortung, daran mitzuwirken, diesen Zustand wieder zu beenden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Diesen Grundsatz ins Gesetz zu schreiben, ist vereinbar mit unserem Grundgesetz sowie mit der darin konstituierten und gesicherten Menschenwürde. Dass über 90 Prozent der betroffenen Menschen überhaupt nicht mit Sanktionen in Kontakt kommen, zeigt doch zweierlei:
Es ist richtig, lieber Kollege Lehmann, dass es unverantwortlich ist, Zerrbilder von den Menschen zu zeichnen, die unsere Unterstützung benötigen und diesen Zustand gern verlassen würden. Genauso falsch ist es aber auch, Zerrbilder von den Menschen zu zeichnen, die in den Jobcentern arbeiten und jeden Morgen aufstehen, um diesen Menschen zu helfen.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Martin Rosemann [SPD] – Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht keiner!)
Beides ist falsch, und beides hören wir aber auch immer wieder in dieser Debatte.
Zweitens. Das Gericht hat klipp und klar gesagt – –,
Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung?
Aber gern.
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sie will jetzt etwas lernen!)
Vielen Dank für die Möglichkeit einer Zwischenfrage. – Frau Präsidentin! Herr Vogel, Sie haben gerade den Eindruck erweckt, dass jemand ein Zerrbild von den Beschäftigten in den Jobcentern, den Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern, zeichnen würde. Ich kann das für mich und ich denke, auch für jene, die diesen Antrag verfasst haben, eindeutig zurückweisen.
Wir sagen vielmehr, dass das jetzige Urteil die Beschäftigten in den Jobcentern in eine verdammt schwierige Situation bringt; denn es gibt unterschiedliche Interpretationen aus dem Hohen Haus. Es gibt unterschiedliche Aussagen, auch von der Spitze der Bundesagentur für Arbeit. Es gibt jetzt einen größeren Ermessensspielraum.
(Kai Whittaker [CDU/CSU]: Es gibt eine Arbeitsanweisung!)
Dies macht es für die Mitarbeiter stressiger und schwieriger; denn sie sind immer mit einem konkreten Menschen konfrontiert.
Deshalb wollte ich Ihnen diese Rückmeldung geben und fragen, woher Sie die Aussage genommen haben, dass wir schlecht über sie sprechen würden. Ganz im Gegenteil: Wir sagen, die unbürokratischste Regelung wäre die Umsetzung mit einer Sanktionsfreiheit auch für die Beschäftigten in den Jobcentern.
(Beifall bei der LINKEN und der SPD)
Das kann ich Ihnen sagen, wie der Eindruck entsteht. Er entsteht, weil wir in der Debatte immer wieder von Einzelfällen hören, bei denen man in der Tat den Eindruck haben kann, dass zu Unrecht Sanktionen verhängt wurden und dann immer wieder in der öffentlichen Debatte der Eindruck kreiert wird, dass das der Regelfall wäre.
(Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Hälfte wird von den Sozialgerichten kassiert!)
Richtig ist – das will ich an dieser Stelle auch ganz klar sagen – aber auch
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 50 Prozent werden von den Gerichten kassiert!)
– hören Sie bitte gut zu! – der zweite Teil des Urteils:
Erstens. Sanktionen sind eine außerordentliche Belastung, und sie dürfen nie so weit gehen, dass jemand beispielsweise seine Wohnung verliert.
Zweitens. Natürlich war es absurd, dass es Konstellationen im Gesetz gab, aufgrund derer es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern verboten war, eine Sanktion aufzuheben, obwohl das Verhalten längst geändert wurde.
Beides haben wir Freien Demokraten aber auch schon lange gesagt. Deshalb ist das Urteil in beiden Teilen richtig und nicht nur einstimmig, sondern auch klug gefällt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Jede zweite Sanktion wird vom Gericht zurückgenommen!)
Unser höchstes Gericht hat damit – das ist doch eine Chance! – in den letzten Jahren zwei entscheidende Streitfragen bei der Grundsicherung geregelt. Immer wieder wurde über die Verfassungsmäßigkeit der Regelsätze und der Sanktionen diskutiert. Beide Fragen sind jetzt höchstrichterlich beantwortet. Das heißt, wir könnten doch jetzt einen Schritt zurücktreten, den Blick heben und uns fragen: Was müssen wir bei der Grundsicherung generell besser machen?
(Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gute Frage!)
Dies setzt aber zwei Dinge voraus, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Union darf nicht länger im Wortsinn konservativ sein und sich – und mit ihr die Koalition – nur genau so weit bewegen, wie sie gerade muss. Lieber Kollege Peter Weiß, die Eins-zu-eins-Umsetzung des Urteils reicht eben nicht, sondern wir müssen jetzt über die Grundsicherung generell sprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall des Abg. Dr. Martin Rosemann [SPD])
– Da klatscht sogar die SPD, das freut mich sehr.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Martin Rosemann [SPD])
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und den Linken, für Sie gilt aber genauso: Zwischen Sie beide passt nicht nur in der Arbeitsmarktpolitik mal wieder kein Blatt; man kann Sie fast auswechseln. Vielmehr darf es uns auch nicht darum gehen, was Sie wollen: Sie suchen den Abstand zur Agenda 2010 und die Nähe zum bedingungslosen Grundeinkommen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein! Johannes, nicht du auch noch! – Heiterkeit bei der SPD)
Was wir aber doch in Wahrheit suchen müssten, das sind die neuen Antworten für die neue Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, und dabei gibt es natürlich Bedarf, wo die Grundsicherung besser werden muss.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir wollen kein bedingungsloses Grundeinkommen! Wir wollen eine sanktionsfreie Grundsicherung!)
Erstens. Die Grundsicherung muss viel unbürokratischer werden. Die Menschen müssen von Amt zu Amt rennen und teils monströse seitenlange Bescheide ausfüllen.
Zweitens. Die Grundsicherung kann viel würdewahrender werden. Die Menschen müssen heute noch Details ihres Mietvertrags diskutieren und Fragen zu ihrer Beziehung beantworten. Das können mündige Bürger selbst entscheiden, auch wenn der Staat das Existenzminimum sichert.
Drittens und letztens muss die Grundsicherung chancenorientierter werden; mein Kollege Pascal Kober hat es schon gesagt. Wie läuft es denn in der Realität? Wenn jemand aus der Grundsicherung herausfindet, dann ist es heute doch oft so, dass er erst eine Stelle für ein paar Stunden in der Woche bekommt. Die ersten 100 Euro kann man auch behalten, aber wenn dann die Chefin oder der Chef sagt: „Komm doch ein paar Stunden mehr“, dann muss man von jedem verdienten Euro 80 Cent abgeben. Das ist absurd.
(Kerstin Tack [SPD]: Quatsch!)
Gerade wenn der Weg aus der Hilfsbedürftigkeit herausführt, legen wir heute Steine in den Weg. Stattdessen müssen wir eine trittfeste Leiter aus der Grundsicherung heraus bauen.
(Beifall der Abg. Reinhard Houben [FDP] und Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist kein Widerspruch zu unserem Antrag!)
Das wäre eine moderne und bessere Grundsicherung. Das nennen wir liberales Bürgergeld, und darüber sollten wir in den nächsten Wochen auch sprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der FDP)
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Kai Whittaker das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7401644 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 127 |
Tagesordnungspunkt | Soziale Garantien |