Johannes VogelFDP - Selbständige in der Sozialversicherung
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzte Sitzungswoche war ich auf einem Podium beim Selbstständigentag 2019.
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Anstatt in der Sitzung zu sein!)
Ein Kollege der Koalition wurde dort gefragt, warum aus seiner Sicht die Gründungsquote in Deutschland eigentlich immer weiter sinke. Seine ernstgemeinte Antwort war: Weil der Arbeitsmarkt brummt und jede und jeder jetzt eine gute Anstellung findet; da will sich niemand selbstständig machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da steckt eine ganze Menge drin. Selbstständige sind aber keine Erwerbstätigen zweiter Klasse.
(Beifall bei der FDP)
Ich habe zu oft bei den Debatten hier im Haus das Gefühl, dass große Teile immer noch von einer vermeintlichen Norm geprägt sind, nämlich Vollzeit, sozialversicherungspflichtig angestellt, nicht Zeitarbeit. Alles, was nicht dieser Norm entspricht, ist dann ganz schnell atypisch, und aus atypisch wird dann in der politischen Debatte ganz schnell prekär.
(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Bei Ihnen vielleicht! Bei uns nicht!)
Das hat aber mit der Realität von Selbstständigen und Freelancern in diesem Land nichts zu tun.
(Beifall bei der FDP)
Ein positives Bild von Selbstständigkeit? Fehlanzeige! Das wollen wir heute ändern.
(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Na gut!)
Lassen Sie uns doch die Chancen der modernen Arbeitswelt endlich mutig umarmen! Das betrifft ja nicht nur das Thema Selbstständigkeit. Wo bleiben denn das moderne Arbeitszeitgesetz und der Rechtsrahmen für Homeoffice und mobiles Arbeiten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition?
(Beifall bei der FDP)
Wo ist der Sozialstaat, der zur modernen Arbeitswelt passt und zum Beispiel auch Zickzacklebensläufe, das heißt den Wechsel von einer Anstellung in die Selbständigkeit und Gründung zurück in die Anstellung, einfacher macht? Fehlanzeige, liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht die Menschen in unserem Land sind zu vielfältig, sondern die Regeln sind zu starr. Das müssen wir verändern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)
Und wo sind die Maßnahmen für eine neue Gründerzeit und eine Kultur der Selbstständigkeit? Es ist doch eine Frage der Selbstbestimmung, dass die Menschen frei entscheiden wollen,
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Können sie doch!)
wann, von wo und wie sie arbeiten. Das ist aber auch eine Frage der Innovationskraft unserer Gesellschaft. Umfragen zeigen, dass heute schon Firmen in diesem Land wegen der Rechtsunsicherheit davon absehen, IT-Freelancer zu beschäftigen. Da müssen wir endlich aufhören, den Menschen Steine in den Weg zu legen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jörn König [AfD] – Gabriele Katzmarek [SPD]: Mir kommen die Tränen!)
Deshalb schlagen wir Freie Demokraten hier eine konkrete Agenda für Selbstständigkeit vor. Ich nenne drei Beispiele:
Erstens: ein modernes Statusfeststellungsverfahren. Das klingt megakompliziert, und das Problem ist: Genau das ist es heute auch. Es ist bürokratisch, unzuverlässig, schwer kalkulierbar
(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Gucken Sie mal in den Koalitionsvertrag!)
und schon in der Theorie grotesk; denn heute kann Selbständigkeit in Deutschland rechtlich gesehen nur festgestellt werden, indem man beweist, dass man nicht angestellt ist. Das ist doch absurd, liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD – Dr. Martin Rosemann [SPD]: Dann gehen wir den Koalitionsvertrag durch!)
Da brauchen wir ein modernes, digitales und eben verlässliches Verfahren. In Großbritannien gibt es ein Onlinetool, mit dem man in 10 Minuten unbürokratisch feststellen kann, dass man selbstständig ist. Wenn die Briten das schaffen, dann schaffen wir das in Deutschland doch auch.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Martin Hebner [AfD] – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Die kriegen ja noch nicht mal den Brexit hin!)
Zweitens: echte Wahlfreiheit bei der Altersvorsorge. Selbstständige sorgen schon heute weit überwiegend gut für das Alter vor, und das sollen künftig alle. Aber was planen CDU, SPD, Grüne und Linke? Sie wollen eine Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung, mit ein bis zwei Ausnahmen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Gute Idee! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Sehr gut! Bravo! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dich wollen wir da auch drin haben, Johannes!)
– Ja, da klatschen Sie. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Selbstständige entscheiden so viele Fragen in unternehmerischer Freiheit selbst; sie können auch selbst entscheiden, wie sie fürs Alter vorsorgen. Deshalb brauchen wir Wahlfreiheit.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jörn König [AfD] – Zuruf von der FDP: So ist es! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Auch Bundestagsabgeordnete in die Rentenversicherung! – Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage])
– Ich nehme gern eine Zwischenfrage an, Herr Präsident.
Wenn Sie eine zulassen, dann soll sie gestellt werden. – Lieber Kollege Dehm.
Er hat sich gemeldet.
Natürlich.
Das klingt genau nach dem unerbittlichen Freiheitsbegriff der FDP. Haben Sie mal erlebt, wie es Solo-Selbstständigen geht, wenn sie nach einer gewissen Zeit merken, dass sie kein Geld in der Alterssicherung haben? Haben Sie mal erlebt, was es heißt, wenn man – das trifft auf jede Selbstständigentätigkeit zu, auch auf das Handwerk – nur eine Krankheit von der Armutsgrenze entfernt ist? Ich meine, wovon reden Sie? Sie reden von Unternehmern, die so erfolgreich sind, dass sie es sich leisten können, FDP zu wählen; aber ich glaube, der Großteil der Selbstständigen braucht den Rest des demokratischen Hauses.
(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])
„Unerbittliche Freiheit“, das ist schon eine ganz bemerkenswerte Aussage, lieber Herr Kollege Dehm von den Linken. Reden wir doch mal über die Realität! Wir wollen ja, dass es eine Pflicht zur Vorsorge gibt; da ist sich das Haus weitestgehend einig. Aber die Frage ist doch: Ist es bei der Gruppe der Selbstständigen, die so vielfältig ist, richtig, vorzuschreiben, auf welchem Weg das passieren soll?
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD – Zuruf des Abg. Dr. Martin Rosemann [SPD])
Und ist es auf der anderen Seite noch zeitgemäß – um das klar zu beantworten, Herr Kollege –, dass wir gleichzeitig Selbstständigen zum Beispiel verbieten, zu riestern?
(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Aber Riester ist doch kein Ersatz! Das ist doch eine Ergänzung!)
Deswegen kann man heute, wenn man von der Anstellung in die Selbstständigkeit wechselt, oft seine Altersvorsorge nicht mitnehmen. Das ist doch absurd!
(Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])
Drittens und letztens, Herr Kollege Dehm: Ist es eigentlich noch zeitgemäß – ein weiteres Beispiel dafür, dass wir Selbstständige in diesem Land schlechter behandeln –,
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein!)
dass Selbstständige, wenn sie sich freiwillig für die gesetzliche Krankenversicherung entscheiden, in vielen Fällen höhere Beiträge zahlen müssen als identisch verdienende Angestellte?
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Deswegen wollen wir ja auch eine solidarische Bürgerversicherung!)
Wir müssen doch alle Erwerbsformen materiell gleichbehandeln, Herr Kollege. Das können wir gerne schaffen. Aber dann müssen wir die Schlechterbehandlung an ganz vielen anderen Stellen in der Sozialversicherung endlich beenden.
(Beifall bei der FDP)
Das sind drei Eckpunkte unserer Agenda für Selbstständigkeit. Das ist der Beitrag, den wir als Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiker ganz konkret für eine neue Kultur der Selbstständigkeit leisten können. Uns als Freien Demokraten ist ganz egal, wie jemand selbstständig ist. Ob das die wachstumsorientierte Start-up-Gründerin ist, ob das der gemeinwohlorientierte Social Entrepreneur ist oder die Freelancerin mit einer genialen Produktidee oder einer besonderen Fähigkeit:
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit der Paketbranche?)
Sie alle sollen Möglichkeiten haben. Von der Politik brauchen sie dafür endlich Fairness und eine Politik, die die moderne Arbeitswelt und ihre Lebensrealität versteht. Dafür stimmen Sie gerne unserem Antrag zu, liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Beifall bei der FDP – Kerstin Tack [SPD]: Nee, ganz sicher nicht!)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7406845 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 134 |
Tagesordnungspunkt | Selbständige in der Sozialversicherung |