20.12.2019 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 138 / Tagesordnungspunkt 23

Bernhard DaldrupSPD - Altschulden der Kommunen und Wohnungsunternehmen

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Christian Haase und ich kennen uns eigentlich gut genug, um sozusagen auch mal ein offenes Wort auf offener Bühne miteinander zu reden. Ich will sagen: Ich rede heute hier im Interesse einer Lösung. Wenn wir aber so diskutieren, dass wir erstens sagen: „Wir prüfen die eigene Unzuständigkeit!“, zweitens: „Das ist Aufgabe der Länder“ und drittens: „Schuld haben wieder mal alle anderen, bloß nicht die CDU“, dann kommen wir nicht zusammen. Und das stimmt auch so nicht; das weißt du ja auch. Da, glaube ich, müssen wir etwas anders diskutieren.

Ich bin jedenfalls sehr froh, dass wir uns der Altschuldenproblematik angenommen haben, dass im Koalitionsvertrag eine Lösung angeboten worden ist und dass Olaf Scholz sich dieser Frage angenommen hat. Darüber sollten wir gemeinsam als Koalition sehr froh sein. Das sollten wir nicht einfach nur Fabio De Masi überlassen, bei dem mich an dieser Stelle ausdrücklich bedanke.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Guter Mann! Das macht der schon!)

Die Kommunen, die sich im Bündnis „Raus aus den Schulden – Für die Würde unserer Städte“ zusammengeschlossen haben, sprechen von einer „Vergeblichkeitsfalle“. Damit wollen sie sagen, dass trotz dramatischer eigener Sparanstrengungen ihre Situation auf Dauer nicht besser wird.

Ich will Ihnen das beispielhaft an den Kommunen der Metropole Ruhr – das ist übrigens nicht mein Wahlkreis; ich komme aus dem Münsterland, und da sind die Probleme nicht so groß –, einer Region mit elf kreisfreien Städten, vier Landkreisen und gut 5,1 Millionen Menschen – das ist mehr, als manche Bundesländer Einwohner haben –, etwas näherbringen. Dort werden aktuell übrigens Überschüsse erzielt, und die Liquiditätskredite konnten um fast 700 Millionen auf 14,3 Milliarden Euro gesenkt werden. Die Steuereinnahmen sind gestiegen, aber sie liegen um 12,5 Prozent unter dem westdeutschen Bundesdurchschnitt, während die Hebesätze bei den Realsteuern um 23,5 Prozent darüberliegen; bei der Grundsteuer sind es sogar über 50 Prozent. Die Sozialausgaben in dieser Region liegen um 50 Prozent über dem westdeutschen Durchschnitt, während gleichzeitig die Investitionen um fast 50 Prozent unter dem westdeutschen Durchschnitt liegen.

Das ist eine Region, die aufgrund von Strukturproblemen nicht an Globalisierungsvorteilen, an Investitionsüberschüssen aus Exporten und an wirtschaftlicher Entwicklung hat teilhaben können. Das ist die wirtschaftliche Situation. Deswegen ist die Arbeitslosenquote dort mit 9,1 Prozent doppelt so hoch wie im westdeutschen Durchschnitt und übrigens auch höher als in Ostdeutschland, wo es im Mittel nur noch 6,1 Prozent sind. Diese Zahlen lassen sich auch auf andere Teile übertragen, beispielsweise auf Pirmasens oder Cuxhaven. Sie zeigen, wie das Land auseinanderdriftet. Das sollten wir gemeinschaftlich nicht akzeptieren.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Denn das hat nicht nur zur Folge, dass die Personalausstattung in den Rathäusern sinkt, sondern auch, dass die Lebenschancen der Menschen in diesen Städten, dass die Würde dieser Städte beeinträchtigt wird.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Wie kommt das? Ja, der Strukturwandel bei Kohle und Stahl spielt eine Rolle. Ungleiche Ausgangsvoraussetzungen, wenn es um eine fortschrittliche Wirtschafts- und Strukturpolitik geht, spielen eine zweite Rolle. Die überproportional steigenden Sozialausgaben spielen auch eine Rolle. Mein lieber Kollege Haase, dieser Umstand ist nicht sozialdemokratisch verursacht, und dafür sind nicht nur die Länder verantwortlich. Der Hinweis auf die Unterfinanzierung durch die Länder stimmt, aber das betrifft eben auch den Bund. Wir haben bei der Steuerverteilung längst einen dreistufigen Staatsaufbau, und Aufgaben und Ausgaben im Strukturwandel sind eben nicht deckungsgleich. Das ist das Problem.

Ich bin froh, dass die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ das auch akzeptiert hat. Sie hat drei Probleme festgestellt: erstens die Altschulden, zweitens die Begrenzung der Sozialausgaben und drittens die Förderung wirtschaftlichen Wachstums in diesen Regionen. Nur wenn wir diesen Dreiklang bedenken, können wir die Probleme lösen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es nutzt überhaupt nichts – das sagt übrigens auch das Institut der deutschen Wirtschaft, keine sozialdemokratische Kaderschmiede –, auf die verfassungsrechtliche Zuständigkeit der Länder hinzuweisen. Sie sind zweifellos – das ist richtig und wurde mehrfach gesagt – für eine bessere Grundfinanzierung zuständig. Das ist in der Tat wahr. Dabei hat der Bund geholfen. Die Landesregierungen sind ihre Aufgaben durchaus angegangen. Unter Rot-Grün war es, dass es den ersten Stärkungspakt gab.

(Matthias Hauer [CDU/CSU]: Sie haben die Kommunen über Jahrzehnte in NRW ausbluten lassen!)

Null Fortsetzung hat es durch die Laschet-Regierung gegeben, null Fortsetzung, kein Stück, überhaupt nicht. Ich finde auch, dass man über Landesregierungen reden muss. Dann gehört aber auch dazu, zu sagen: Der Attentismus der schwarz-gelben Landesregierung in dieser Frage ist unglaublich.

(Beifall bei der SPD – Matthias Hauer [CDU/CSU]: Das ist doch lächerlich! Über Jahrzehnte! – Zuruf der Abg. Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP])

Nordrhein-Westfalen wäre der größte Profiteur dieser Situation.

(Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Das ist ja unglaublich! – Zuruf des Abg. Matthias Hauer [CDU/CSU])

– Nein, Nordrhein-Westfalen war immer ein kommunalfreundliches Land. Da weiß ich aber, wovon ich spreche, mein Lieber.

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Aber hallo! Mit jedem anderen Bundesland konnten wir mithalten.

Ich sage nur mal: Die Haltung, die Nordrhein-Westfalen heute einnimmt, ist wie bei „Mikado“: Nicht bewegen, mal gucken, was andere machen. – So gestaltet man Politik nicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Matthias Hauer [CDU/CSU]: Reden wir mal über die Sozialausgaben! – Zuruf der Abg. Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP])

-- Lassen Sie doch die Düsseldorfer Luft raus! – Was müssen wir jetzt eigentlich machen angesichts der gesamtstaatlichen Finanzlage? Angesichts der Tatsache, dass die Zinsen uns ein Fenster der Gelegenheit ermöglichen, müssen wir jetzt handeln.

(Matthias Hauer [CDU/CSU]: Da haben Sie recht!)

Eine Zinserhöhung um 1 Prozent – das ist eben gesagt worden – macht in der Gesamtheit der Kassenkredite mit einer Größenordnung von 42 Milliarden Euro 400 Millionen Euro aus. Das können wir doch so nicht akzeptieren. Ich bin Olaf Scholz dankbar, dass er das Problem erkannt und ein Angebot gemacht hat.

(Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Die SPD hat gewartet!)

Aber es ist mit einer Frage verbunden, und die richtet sich an uns alle: Sind wir unter den Ländern, wie in der Aufbauphase der BRD, zu Solidarität bereit und fähig? So wie im Einigungsprozess gegenüber den neuen Ländern, so wie ursprünglich gegenüber den süddeutschen Ländern, so wie wir es gegenüber einzelnen Bundesländern sind: Sind wir zu einer solchen Form von Solidarität fähig, ja oder nein? Das ist, glaube ich, eigentlich die entscheidende Frage.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Die westdeutschen Kommunen haben seit 1991 bis heute für die Finanzierung des Solidarpaktes sowie für die Tilgung des Fonds „Deutsche Einheit“ insgesamt 70 Milliarden Euro durch die erhöhte Gewerbesteuerumlage gezahlt – 70 Milliarden Euro von westdeutschen Kommunen! Vor diesem Hintergrund verliert doch die Summe von 42 Milliarden Euro bei den Kassenkrediten, von denen der Bund nur die Hälfte übernehmen soll, angesichts eines Zeitraums von 30 Jahren nun wahrlich ihren Horror und ihren Schrecken. Man muss sich dieser gesamtgesellschaftlichen Verantwortung doch stellen und kann nicht sagen: Wir sind nicht zuständig. – Wo gibt’s denn so was?

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Ich will an dieser Stelle noch mal ausdrücklich sagen: Wir helfen ja auch. Das gesamtdeutsche Fördersystem ist angesprochen worden, Investitionsprojekte sind angesprochen worden, die Städtebauförderung ist angesprochen worden. Das alles ist richtig; aber der Hinweis darauf und die Litanei vereinzelter Haushälter über fehlenden Mittelabfluss und das Eigenlob sind nicht genug, wenn wir das Problem lösen wollen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Wenn sich Bund und Länder einig sind, dass denjenigen geholfen wird, die Hilfe benötigen, dass dies auch mitgetragen wird von denjenigen, die nicht betroffen sind, wenn Länder und Kommunen sicherstellen, dass die Hilfe auch wirkt –

Herr Kollege Daldrup, Sie können weitersprechen, aber auf Kosten Ihrer Kollegen.

– nein, tue ich nicht; ich höre auf, Frau Präsidentin –, dann werden wir jedenfalls viel für die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen und für den Zusammenhalt in unserem Land tun. Das ist die Aufgabe der Zukunft.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Das Wort hat die Kollegin Ulla Ihnen für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7409729
Wahlperiode 19
Sitzung 138
Tagesordnungspunkt Altschulden der Kommunen und Wohnungsunternehmen
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