Claudia SchmidtkeCDU/CSU - Organspende
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In der dritten, der abschließenden Debatte zur künftigen Ausrichtung der Organspende möchte ich über das sprechen, was im englischsprachigen Raum „elephant in the room“, hier sozusagen der Elefant im Plenarsaal, genannt wird, also über das, was das Thema eigentlich bestimmt, worüber wir aber ungern sprechen, weil es bequemer ist, es zu verdrängen: den Tod.
Damit meine ich nicht die Frage, ob der Hirntod der Tod ist – diese wissenschaftliche Tatsache wird von allen vorliegenden Entwürfen anerkannt –, sondern ich meine die Belastung der Organspendedebatte mit dem größten vorstellbaren Tabuthema: unserer Sterblichkeit.
Zivilisation begann mit der Bestattung der Leichname unserer Angehörigen. Es ist ein fester Bestandteil unserer Kultur, dass wir Abschied nehmen wollen von dem Menschen, der uns verlässt. Und es schmerzt uns, wenn dem – auch toten – Körper eines Angehörigen oder Freundes Schaden zugefügt wird. Diese Werte sind eine feste Grundlage unserer Gesellschaft, und es fällt schwer, sie verletzt zu sehen.
Doch seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist klar: Jeder Mensch kann dafür sorgen, dass mit seinem Tod andere Menschenleben gerettet werden. Zu Lebzeiten ist dies den wenigsten Menschen vergönnt. Heute aber kann man es als Erbe hinterlassen und, statistisch betrachtet, drei Leben von Menschen retten, die gemeinsam mit ihren Angehörigen und Freunden in tagtäglicher Anspannung teilweise über Jahre darauf hoffen.
Seit Bestehen der Transplantationsmedizin ist Folgendes gegeneinander abzuwägen: die Unverletzlichkeit eines Leichnams, den wir begraben, mit dem höchsten Gut, einem Leben, das gerettet werden kann. Jeder Mensch hat diese Abwägung für sich und seinen Körper zu treffen; auch daran will keiner der vorliegenden Gesetzentwürfe etwas ändern.
Die Widerspruchsregelung geht jedoch davon aus, dass der Wert des zu rettenden Lebens in unserer Gesellschaft so hoch ist, dass, solange der Widerspruch in jedem Einzelfall respektiert wird, von einer Zustimmung ausgegangen werden kann, ja sogar muss.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist alles, worum es geht.
Was diese einfache Frage der Abwägung jedoch kompliziert macht, ist die Überschattung durch das Thema, über das wir ungern sprechen: den Tod. Wenn wir nicht über ihn sprechen, ihn ignorieren, helfen uns die althergebrachten Wertesysteme, die uns jahrhundertelang begleitet haben, dabei, ihn ertragen zu können. Das verstehe ich gut.
Doch spätestens seit um uns herum fast ganz Europa – alles christliche Nationen, alle gehören zu unserer Wertegemeinschaft – den Schritt zur Widerspruchsregelung gegangen ist, muss Deutschland die Frage gestellt werden, ob man sich weiterhin in diese Verdrängung zurückziehen kann,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)
ob wir Schicksale wie das von Marius Schäfer weiterhin ertragen wollen.
Marius ist heute hier auf der Tribüne mit seinem Vater. Er hat als Elfjähriger, vor acht Jahren, im Gegensatz zu den vielen Wartenden eine Spende erhalten. Allerdings: Es war die erste Lebendspende einer Lunge in Deutschland. Beide Eltern haben einen Teil von ihrer Lunge abgeben müssen, um ihm das Leben bis heute, jeden einzelnen kostbaren Tag, zu schenken.
Solch ein Schritt ist zuvor bei uns noch nie gewagt worden. Er gefährdet nämlich drei Betroffene. Doch waren Marius’ Zustand und seine Werte so schlecht, dass sich die mutigen Ärzte in Hannover in letzter Minute dazu durchringen mussten; denn in Deutschland gab es kein Organ für Marius. Er steht stellvertretend für so viele Patientinnen und Patienten, die uns in den vergangenen Wochen angeschrieben haben.
Wenn wir heute die Entscheidung über die künftige Ausgestaltung der Organspende treffen, entscheiden wir darüber, was uns wichtiger ist: mit minimalen Veränderungen keine spürbare Wirkung auf das Schicksal der Betroffenen zu entfalten und uns einzureden, dass das etwas mit solidarischen Werten zu tun hat,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
oder ihnen Hoffnung zu geben mit einer tatsächlichen Veränderung, die nahezu alle unsere europäischen Partner bereits vollzogen haben. Wollen wir das? Die Zahlen sagen Ja. Die Fachleute, auch die DSO, sagen Ja. Die Mehrheit der Deutschen sagt Ja. Die Patienten hoffen inständig auf ein Ja.
Ich bitte Sie: Gehen Sie den Schritt! Die Widerspruchsregelung respektiert die Entscheidung jeder Einzelnen und jedes Einzelnen ebenso wie die anderen Entwürfe, doch nur bei ihr hat das zu rettende Leben den Stellenwert, der unserer Gesellschaft guttut.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)
Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Annalena Baerbock.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7413951 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 140 |
Tagesordnungspunkt | Organspende |