16.01.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 140 / Tagesordnungspunkt 7

Jens SpahnCDU/CSU - Organspende

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In keinem anderen Bereich der Medizin in Deutschland ist die Versorgungslage schlechter als im Bereich der Organspende. Wir würden in keinem anderen Bereich solche Wartezeiten, solches Leid, so eine schwierige Versorgungslage für Patientinnen und Patienten akzeptieren – auch im Vergleich zu anderen westlichen Ländern –, wie wir es hier bei der Organspende seit Jahren tun.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)

Ja, eine solidarische und mitfühlende Gesellschaft, die Zusammenhalt stärken will, die lässt dieser Befund, wie dramatisch, wie desaströs in Teilen die Versorgungslage ist, nicht kalt. Deswegen ist es gut – und das zeigt ja auch diese Debatte –, dass wir uns damit beschäftigen.

Als wir vor eineinhalb Jahren mit dieser Debatte begonnen haben, war ja nicht absehbar, wie sie laufen würde. Aber was uns gemeinsam gelungen ist: In jeder Familie, in jeder Nachbarschaft, auf der Arbeit, an vielen Stellen ist in den letzten Monaten über dieses Thema diskutiert worden. Das Entscheidende ist, finde ich auch, dass die Patienten und ihre Angehörigen, diejenigen, die voller Hoffnung, Verzweiflung, Leid, Schmerz sind, sehen: Wir sind nicht vergessen, unser Leid wird gesehen. – Das haben wir durch diese Debatte gezeigt, und das ist schon ein Wert an sich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ja, die Widerspruchslösung ist kein Allheilmittel, keine Wunderwaffe; sie wird nicht alle Probleme lösen. Aber auch die Verbesserung der Abläufe in den Krankenhäusern, die wir schon gemeinsam beschlossen haben, wird nicht alle Probleme lösen. Aber auch das Onlineregister, das in beiden Gesetzentwürfen beschrieben wird – dass man online leichter seinen Willen dokumentieren kann –, wird nicht alle Probleme lösen. Es gibt nicht die eine Maßnahme, die alles sofort besser macht, sondern es braucht eine Kombination von Maßnahmen. Deswegen ist die Verbesserung der Abläufe in den Krankenhäusern kein Gegensatz zur Widerspruchslösung, sondern eine gute Ergänzung; auch das ist für die Debatte wichtig.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Jenseits der Einzelfragen, die wichtig sind, ist mit der Widerspruchslösung – das zeigen die 22 Länder in der Europäischen Union, die eine Widerspruchslösung haben – eben auch eine Kultur der Organspende verbunden. Die Organspende ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die Organspende als Regel macht es im Übrigen auch den Angehörigen leichter. Eins will ich schon sagen, wenn über Selbstbestimmungsrecht und Angehörige geredet wird: Es geht hier nicht um das Recht der Angehörigen auf Entscheidung, sondern es geht um den Willen des Verstorbenen – das muss das Entscheidende in der Debatte sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Uwe Witt [AfD])

Deswegen ist die doppelte Widerspruchslösung sozusagen eine gesellschaftliche Zustimmungslösung. Es ist die Ansage und Aussage der Gesellschaft: Ja, wir wollen eine Kultur der Organspende. – Das ist der entscheidende Unterschied, den sie macht und um den es uns in dieser Debatte geht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Uwe Witt [AfD])

Dieser kulturelle Unterschied ist auch gerechtfertigt aus meiner Sicht, im Sinne von Solidarität in einer Gesellschaft, wo jeder nicht nur auf sich selbst bezogen ist. Denn jeder von uns ist potenzieller Organempfänger. Es gibt nur ganz, ganz wenige Menschen, die sagen: Für mich selbst oder für die Kinder, zum eigenen Überleben oder zum Überleben der Kinder würde ich im Fall der Fälle zum Beispiel auf ein Spenderherz verzichten; das sind nur sehr, sehr wenige. Die allermeisten sind potenzielle Organempfänger. Da stellt sich schon die Frage, ob man dann nicht davon ausgehen kann, dass jeder potenzieller Organspender ist, außer er sagt – begründungsfrei – ganz einfach Nein. Das ist die Frage, um die es geht. Ich finde: Ja, das lässt sich gut verargumentieren und rechtfertigen. Ist das eine Zumutung? Ja, es ist eine Zumutung – aber eine, die Menschenleben rettet.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Uwe Witt [AfD])

Das ist der Kern der Abstimmung heute: Ist das zumutbar? Ist diese Zumutung zumutbar? Hier war viel von Selbstbestimmung die Rede. Ja, es geht um die Selbstbestimmung des Einzelnen über die Frage: Was soll mit meinen Organen nach dem Tod passieren? Aber ich bitte, auch die Selbstbestimmung – das Beispiel ist genannt worden – etwa von Kindern zu sehen, von Patienten zu sehen, die über Monate, teilweise Jahre gezwungen sind, im Krankenhaus in einem Zimmer mit einer großen Maschine neben sich zu leben, weil es kein Spenderorgan gibt, zu sehen, was das für die Familien und die Patienten bedeutet. Auch um deren Selbstbestimmung und Freiheit geht es in dieser Debatte.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Uwe Witt [AfD])

Auch da ist das Wort „Selbstbestimmung“ gerechtfertigt. Im Kern geht es bei der Frage „Ist das zumutbar?“ genau um diese Abwägung. Da gibt es kein Richtig oder Falsch, kein absolut Gutes oder Böses. Es ist eine Abwägungsfrage: Wir wägen die Freiheit, nicht entscheiden zu müssen, ab gegen die Freiheit der Patientinnen und Patienten, ihrer Angehörigen, die stark eingeschränkt sind und denen im Extremfall dann der Tod droht.

Eins will ich abschließend sagen, Herr Präsident: Ich habe über Jahre mit den gleichen Argumenten, die gerade einige Kolleginnen und Kollegen vorgebracht haben, selbst für die Zustimmungslösung geworben, für das, was heute gilt, zum Teil mit den gleichen Argumenten. Wenn Hermann Gröhe, Ulla Schmidt sagen, auch sie wollen sich nicht abfinden mit der jetzigen Lage, wie sie ist: Die Wahrheit ist, der andere Gesetzentwurf ändert an der heutigen Lage nichts,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Uwe Witt [AfD])

außer dass die Hausärzte vielleicht noch ein bisschen Geld für das bekommen, was sie tun. Das ist die Wahrheit.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht! Das stimmt nicht, Jens Spahn, und Sie wissen es auch!)

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Deswegen – das will ich auch sagen – werde ich im Fall der Fälle persönlich – und das gilt auch für den Kollegen Karl Lauterbach – – Ich sehe ja jeden Willen zur Verbesserung –,

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

– aber diesem Gesetzentwurf werde ich nicht zustimmen können. Einfach nur mehr Aufklärung – das haben die letzten Jahre gezeigt – löst das Problem nicht. Deswegen möchte ich Sie einfach bitten: Sagen Sie Ja zu einer Kultur der Organspende in diesem Land, in der Abwägung. Ja, das Leid der Patienten wiegt stärker als das Selbstbestimmungsrecht, sich nicht entscheiden zu wollen.

Herr Kollege Spahn, bitte kommen Sie zum Schluss.

In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmung zur doppelten Widerspruchslösung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Uwe Witt [AfD])

Vielen Dank, Herr Kollege Spahn. – Damit schließe ich die Debatte.

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Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7413974
Wahlperiode 19
Sitzung 140
Tagesordnungspunkt Organspende
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