Helge LindhSPD - Wiedergutmachung im Staatsangehörigkeitsrecht
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Fragen und zwei Geschichten scheinen mir im Mittelpunkt zu stehen.
Zwei Fragen. – Erste Frage: Was bedeutet es, wenn Nachfahren von NS-Verfolgten, insbesondere jüdische Nachfahren, Deutsche werden wollen? Ich denke, es ist nicht nur eine riesige Gnade für uns, es ist auch ein ungeheurer Akt des Verzeihens und des Vertrauens in uns, den wir gar nicht hoch genug würdigen können,
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
gerade in einer Situation, in der Jüdinnen und Juden in diesem Land zwar nicht auf gepackten Koffern sitzen, aber doch angesichts des steigenden Antisemitismus die Koffer wieder vom Speicher geholt haben, was uns allen zu denken geben sollte.
Die zweite Frage, die mir bei dem Thema Staatsangehörigkeit und hier bei dieser aktuellen Frage wichtig erscheint, ist: Wer ist deutsch? Denn mit der Staatsangehörigkeit gibt sich ein Land ein Selbstbild, definiert unzweifelhaft, wer im Sinne der Staatsangehörigkeit dazugehört und wer nicht; das ist einschließend und ausschließend.
Unser Verständnis als SPD-Fraktion ist, dass das Staatsangehörigkeitsrecht generell einen Akzent aufs Inklusive, aufs Einschließen haben sollte. Es kann gerade bei dem betroffenen Personenkreis, aber auch insgesamt nicht unser Ziel sein, dass Menschen, die sich mit dem Land identifizieren und die Staatsangehörige werden sollten, dauerhaft sehr hohe Hürden ertragen müssen. Wir sollten Menschen dafür belohnen, dass sie Deutsche werden wollen, und sie nicht bestrafen.
(Beifall bei der SPD)
Der Alltag der Einbürgerungswilligen zeigt generell, dass die Praxis von nichtwilligen Ausländerbehörden oft von dem Gefühl eines Bestrafens getragen ist. Da ist noch viel Arbeit zu leisten.
Wir haben aber auch zwei Geschichten. Die eine Geschichte ist die der politischen Regelungen: Gesetzgebung, Rechtsverordnung, Erlass. Wir als Koalition haben uns erst einmal aus Gründen des Pragmatismus und eindeutig auch der Geschwindigkeit entschieden, den Erlassweg zu gehen. Gleichzeitig sage ich – das haben wir als SPD auch immer offen formuliert –, dass unser generelles Ziel durchaus eine gesetzgeberische Lösung ist, wir aber erst abwarten wollen, was die Erlasse ergeben, und uns genau anschauen wollen, welche Fälle erfasst werden: Gibt es Nachsteuerungsbedarf?
Wenn wir alle ehrlich miteinander sind, stellen wir fest, dass auch die durchaus sehr guten Gesetzentwürfe Lücken haben, dass es auch dort blinde Flecken gibt und es auch, wie die Anhörung zeigte, Personengruppen gibt, die nicht umfassend erfasst sind, was es noch dringlicher macht, erst einmal abzuwarten und nicht einfach diesen Gesetzentwürfen zuzustimmen. Also: erst einmal der Erlassweg und dann schauen, was gesetzgeberisch möglich ist. Aber ich danke ausdrücklich – ich finde, das ist bei dieser Debatte geboten – nicht nur dem Koalitionspartner, sondern auch den Grünen und Linken, dass sie das Thema aufgebracht haben.
Ich erlaube mir aber – so kennen Sie mich – eine kleine, winzige kritische Anmerkung. Im Antrag der Grünenfraktion steht, dass die Koalition erst nach dem großen medialen Aufkommen und nach dem Gesetzentwurf der Grünen gehandelt habe. Ich glaube, wir brauchen nicht diese Form der Belehrung und des Hinweises. In diesem Punkt wären ein bisschen weniger grüne Selbstgewissheit und ein Hauch mehr Zurückhaltung und Demut angebracht gewesen.
(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Generell aber stimmen wir bei dem Ziel und der Erkenntnis, wie wichtig es ist, mit dem Staatsangehörigkeitsrecht Menschen zu erfassen, die bisher nicht durch Artikel 116 Absatz 2 berücksichtigt wurden, völlig überein.
Jetzt komme ich aber zu der eigentlichen Geschichte, die mir wichtig erscheint. Worüber reden wir? Heinrich Heine schrieb 1828 als herausragender deutscher Jude über Emanzipation, und nicht nur über Juden-Emanzipation. Er schrieb Folgendes:
Es ist die Emanzipation. Nicht bloß die der Irländer, Griechen, Frankfurter Juden, westindischen Schwarzen und dergleichen gedrückten Volkes, sondern es ist die Emanzipation der ganzen Welt, absonderlich Europas, das mündig geworden ist und sich jetzt losreißt von dem eisernen Gängelbande der Bevorrechteten, der Aristokratie.
Das ist so wichtig, damit wir erkennen, dass diejenigen und deren Nachkommen, um die es hier geht, nicht Fremde sind – das wollten die Nationalsozialisten erreichen –, sondern sie waren zutiefst Teil von uns und unserer Geschichte.
Weil das Stichwort „Aristokratie“ mich jetzt dazu verleitet: Unter denen, deren Nachfahren verfolgt wurden, waren zum Beispiel auch James und Agnes Simon, deutsche Juden, die im deutschen Kaiserreich das Kaiserhaus immens unterstützt haben, aber auch Stützen der Weimarer Demokratie waren und die in ungeheuerlicher Weise Kunstschätze dem deutschen Staat überlassen, geschenkt haben. Ihre Nachfahren sind, trotz allem, was sie erlebt haben, dabei geblieben. Diese Haltung und diese Bescheidenheit ist etwas, an dem sich zum Beispiel die Hohenzollern ein Beispiel nehmen könnten.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Es gibt aber auch noch einen anderen Fall, jemanden, der beispielhaft ist für die Personen und deren Nachfahren, über die wir sprechen. Sein Name ist Samuel Steilberger. Er war Bandweber, kam als Arbeitsmigrant aus Langenberg nach Elberfeld. Zwölf Kinder hatte er. Er war kein Intellektueller. Er war ein ganz normaler Jude dieser Zeit, und er war ein ganz normaler Deutscher dieser Zeit; das war ganz selbstverständlich. Diejenigen aber, die dann seine Nachfahren aus der Staatsangehörigkeit ausschließen wollten, konstruierten eine Geschichte, die nie eine war. Dieser Samuel Steilberger freute sich riesig, als seine Kinder und seine Enkelkinder Musikunterricht bekommen konnten – diese Chance hatte er nie – und als er zum Ende seines Lebens die Chance hatte, eine Wohnung mit Balkon zu beziehen. Seine Gedanken waren die eines gewöhnlichen Deutschen.
Also frage ich an dieser Stelle: Wer ist deutsch? Dieser Samuel Steinberger war und ist deutsch. Er gehörte und gehört zu uns, und seine Nachfahren gehören zu uns. Wir sind sie, und sie sind wir.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD)
Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion ist der Kollege Stephan Thomae.
(Beifall bei der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7424667 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 143 |
Tagesordnungspunkt | Wiedergutmachung im Staatsangehörigkeitsrecht |