Lars CastellucciSPD - Wiedergutmachung im Staatsangehörigkeitsrecht
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Uns liegen heute mehrere Anträge zur Wiedergutmachung im Staatsangehörigkeitsrecht vor. Dabei geht es – man muss wirklich sagen: noch immer – um Menschen, denen in der Nazizeit die Staatsangehörigkeit entzogen wurde oder die sie beispielsweise auf der Flucht verloren haben, oder um ihre Nachkommen.
Ich will für die SPD-Fraktion zunächst sagen, dass der Begriff der Wiedergutmachung in diesem Zusammenhang wirklich ein schwieriger Begriff ist. Es wurden Menschen aus der Gemeinschaft ausgestoßen; sie wurden zur Flucht gezwungen. So etwas kann man nicht wiedergutmachen. Ich denke, es geht vielmehr um unsere besondere Verantwortung, um unsere Verpflichtung diesen Menschen und ihren Nachkommen gegenüber.
(Beifall bei der SPD)
Eigentlich gibt unser Grundgesetz einen klaren Auftrag: In Artikel 116 heißt es:
Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern.
In der Praxis – das ist dargestellt worden – gibt es aber eine Vielzahl von Gruppen, die nicht berücksichtigt sind. Darin sind unter anderem die Erwähnten enthalten, die die Staatsangehörigkeit besessen haben, sich aber auf die Flucht begeben haben, bevor sie ihnen entzogen werden konnte. Ein weiteres, wie ich finde, besonderes Beispiel ist: Wenn die Eltern nicht miteinander verheiratet waren und nur die Mutter Deutsche war, nach alter Rechtsprechung aber der Vater die Staatsangehörigkeit weitergibt, dann bleibt das Kind ohne den Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit. Das ist bis heute der Fall.
Wenn Sie mich also fragen, ob ich glaube, dass wir mit dem, was wir bisher auf den Weg gebracht haben, unserer besonderen Aufgabe, unserer besonderen Verpflichtung den Menschen gegenüber in ausreichendem Maße nachgekommen sind, dann muss ich Ihnen sagen: Ich bin dieser Auffassung nicht. Ich glaube, es braucht einen Rechtsanspruch für die Betroffenen.
(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Den gibt es doch! Natürlich gibt es den Rechtsanspruch!)
Ich vermute auch, dass es weitere Personengruppen gibt, die von den Erlassen nicht erfasst sein werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE] – Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stimmen Sie zu, Lars!)
Wir sind also wahrscheinlich einen wichtigen Schritt gegangen – das ist dargestellt worden –; aber wir sind gewiss noch nicht am Ziel. Darüber war in der Koalition aber keine Einigkeit zu erzielen. Deswegen muss ich Sie für heute um Geduld bitten, da wir zunächst die Wirkung dieser Erlasse auswerten werden. Das Thema bleibt auf der Tagesordnung, und wenn es weiteren Handlungsbedarf gibt, dann werden wir es erneut besprechen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den letzten zehn Jahren gab es 30 000 Einbürgerungsanträge von in diesem Zusammenhang Betroffenen. Die Grünen haben in ihrem Antrag dazu geschrieben – ich zitiere daraus –:
Dass eine so große Zahl an Nachkommen von während der NS-Diktatur Verfolgten und zur Emigration Gezwungenen heute wieder deutsche Staatsangehörige werden wollen, sollte Deutschland mit Dankbarkeit erfüllen.
Das hat Frau Göring-Eckardt heute so ähnlich in ihrer Rede formuliert. Ich denke, dem kann man nur aus vollem Herzen zustimmen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)
Ich glaube ganz generell, darin liegt auch der Schlüssel. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten uns freuen, wenn jemand Deutscher sein oder Deutscher werden will.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ganz offensichtlich ist die Freude darüber nicht gleich verteilt in diesem Haus; sonst könnte es doch nicht so schwierig sein, noch ein paar Veränderungen an unserem Staatsangehörigkeitsrecht vorzunehmen.
(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Es geht um das Verfahren, Herr Castellucci! Das ist doch völliger Käse!)
Ich möchte anschließen an das, was mein Kollege Lindh hier vorgetragen hat: Wann ist man denn Deutscher? Unser Grundgesetz sagt: Deutscher ist, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. – In Deutschland leben rund 21 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund; mehr als die Hälfte von ihnen besitzt den deutschen Pass. In Deutschland leben vielleicht 4 bis 5 Millionen Muslime; fast die Hälfte von ihnen besitzt den deutschen Pass. Ich möchte Sie fragen: Glauben Sie, dass diese Personen im Alltag als Deutsche angesehen werden? Ich habe gerade mit Praktikantinnen und Praktikanten hier im Deutschen Bundestag gesprochen. Da wurde mir unter anderem vermittelt: Wenn wir von „wir“ sprechen, wissen sie zum Teil nicht, ob sie sich angesprochen fühlen können oder sogar angesprochen fühlen müssen. – Ich denke, solange das noch so ist, haben wir in Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts noch eine ganze Menge zu tun.
Viele müssen sich immer wieder fragen lassen, wo sie eigentlich herkommen. Ferda Ataman hat darüber ein Buch geschrieben mit dem Titel „Ich bin von hier: Hört auf zu fragen!“. Auch der Titel zeigt: Wir haben noch viel zu tun, wenn es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt geht.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Konkrete Beispiele sind Diskriminierungen im Alltag, beispielsweise bei der Suche nach einer Wohnung oder auf dem Arbeitsmarkt. Oder man unterstellt Menschen, dass sie, wenn sie ihre Wurzeln nicht verbergen oder verheimlichen wollen, sich nicht ganz zu uns bekennen und nicht ganz dazugehören wollen. Ich finde, Johannes Rau hat recht gehabt, als er vor 20 Jahren gesagt hat:
Es kommt nicht auf die Herkunft des Einzelnen an, sondern darauf, dass wir gemeinsam die Zukunft gewinnen.
(Beifall bei der SPD)
Für diesen Satz müssen wir heute noch eine ganze Menge tun.
Über 100 000 Menschen wurden 2018 eingebürgert. Ich finde, meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist eine gute Nachricht. Wir sollten mit der Staatsangehörigkeit nicht zu großzügig sein; wir dürfen streng sein. Ist man als Deutscher in Wuhan und von einem neuen Virus betroffen, dann müssen wir diesen Menschen ausfliegen. Als Staat haben wir Pflichten gegenüber unseren Staatsbürgern.
Umgekehrt – das hat auch der Bundespräsident gestern zum Ausdruck gebracht – gilt, dass wir von den Menschen, die bei uns eingebürgert werden wollen, etwas verlangen, nämlich nicht weniger, als dass – ich zitiere – „die Lehren aus unserer Geschichte … zum Selbstverständnis aller Deutschen gehören“ müssen; „denn Verantwortung im Hier und Heute tragen wir alle!“ Ich denke, das ist gestern sehr gut zum Ausdruck gekommen.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Darin kommt auch der hohe Anspruch zum Ausdruck, den wir mit dem Bekenntnis zu unserem Land verbinden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Thema ist auf Wiedervorlage. Nutzen wir die Zeit für das öffentliche Gespräch darüber, was „dazugehören“ bedeutet und wie gutes Zusammenleben gelingen kann! Nur so schaffen wir die Basis für ein wirklich gutes Staatsangehörigkeitsrecht. Wir können im Leben nicht alles wiedergutmachen, aber wir können versuchen, die Dinge immer wieder von Neuem gut zu machen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD)
Das Wort hat der Kollege Axel Müller für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Source | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
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Electoral Period | 19 |
Session | 143 |
Agenda Item | Wiedergutmachung im Staatsangehörigkeitsrecht |