13.02.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 146 / Tagesordnungspunkt 16

Marianne SchiederSPD - Anerkennung von NS-Opfergruppen

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie alle kennen sie, die kleinen Messingsteine, die uns auf Gehwegen und Plätzen begegnen und an ganz alltäglichen Orten an Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Diese Stolpersteine liegen dort, wo Menschen gelebt und gewohnt haben.

Aber wie ist es eigentlich mit Menschen, die keinen festen Wohnsitz hatten? Einen solchen Ort habe ich heute zusammen mit Dr. Eva Högl, Katrin Budde, Susann Rüthrich und Martin Rabanus besucht. Mit dabei war auch Professor Nonnenmacher, den ich heute als Gast mit seiner Frau auf der Tribüne ganz herzlich begrüßen möchte.

(Beifall)

Herr Professor Nonnenmacher stand uns schon mehrfach als Sachverständiger zur Verfügung. Gemeinsam waren wir also heute am Berliner Alexanderplatz, wo ganz in der Nähe der Weltzeituhr fünf Stolpersteine verlegt sind. An diesem Platz war früher das Restaurant Aschinger. Es war bekannt für seine günstigen Speisen und deswegen auch bei Obdachlosen sehr beliebt. Und genau darum befinden sich dort heute Stolpersteine für Obdachlose, die von Nationalsozialisten als sogenannte Asoziale, teilweise auch als Berufsverbrecher verfolgt wurden.

Einer von ihnen war Karl Otto Mielke. Aus seinem Leben wissen wir, dass er in den 1930er-Jahren mehrfach seinen Arbeitsplatz verlor und keinen festen Wohnsitz hatte. Für die Nationalsozialisten galt er als arbeitsscheu und asozial. Gesucht, verhaftet und verurteilt wurde er wegen Bummelns. Diesen Straftatbestand führten die Nazis eigens ein, um Menschen, die nicht den gesellschaftlichen Arbeitsnormen entsprachen, festnehmen zu können. Nachdem er seine Haft verbüßt hatte, wurde Karl Otto Mielke in Vorbeugungshaft genommen, ins Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht und dort ermordet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Asoziale verfolgten die Nationalsozialisten die unterschiedlichsten Menschen: neben sogenannten Arbeitsscheuen auch Obdachlose und Prostituierte. Berufsverbrecher waren Menschen, die in der Regel mindestens dreimal Haftstrafen für Eigentumsdelikte verbüßt hatten. Auch wenn kein Tatverdacht mehr gegen sie vorlag, wurden viele von ihnen in Konzentrationslager gebracht und ermordet. An der Kleidung mussten sie einen schwarzen bzw. grünen Winkel tragen.

Das Konzentrationslager Flossenbürg in meiner Oberpfälzer Heimat wurde für sogenannte Asoziale und Berufsverbrecher errichtet und hieß nicht umsonst „grünes Lager“. Dort war auch Carl Schrade eingesperrt, nachdem er bereits seine Strafen wegen Diebstahls, Sachhehlerei und Urkundenfälschung verbüßt hatte. Er beschwerte sich öffentlich in einem Café über die Inhaftierung von zwei Freunden durch die Gestapo. Daraufhin wurde er in polizeiliche Vorbeugungshaft genommen und kam über mehrere Konzentrationslager mit dem grünen Winkel schließlich nach Flossenbürg. Von den Nazis wurde er zum Funktionshäftling gemacht, zu einem Kapo, zur Aufsicht über andere Häftlinge verpflichtet und gezwungen. In dieser Position half Carl Schrade seinen Mitgefangenen so gut wie möglich. Selbst nach der Befreiung von Flossenbürg pflegte er freiwillig schwerkranke Mithäftlinge.

Wir haben heute am Alexanderplatz an Menschen wie Karl Otto Mielke und Carl Schrade erinnert. Und jetzt diskutieren wir hier im Parlament über vier Anträge zur Anerkennung dieser bisher wenig beachteten Opfergruppen. Das haben wir bereits im Koalitionsvertrag vereinbart; das ist also schon eine ganze Weile her. Die Anträge eint der Wille, das Leid der Verfolgten anzuerkennen und klarzustellen: Niemand saß zu Recht im KZ!

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich zitiere Professor Frank Nonnenmacher, der in unserer Anhörung sagte:

Aufgeklärte Demokraten erkennen alle Menschen, die in den KZ gequält und gemordet wurden, als Opfer des NS-Unrechtsstaats an, unabhängig von Religion, Nationalität, Herkunft und Lebensweise, biografischer Vorgeschichte oder sozialem Status.

Zu diesen aufgeklärten Demokraten gehört die AfD nicht. Das hat sie heute wieder einmal bewiesen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Sonst könnten solche Sätze nicht fallen, wie sie Herr Kollege Jongen hier heute gebracht hat.

Unser Antrag hat einen Vorschlag aufgegriffen, der bereits seit ungefähr zehn Jahren vom Beirat der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ gefordert wird. Unser Antrag ermöglicht die Wanderausstellung, in der wissenschaftliche Forschungsergebnisse einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt werden können. Hier kann sehr gut herausgearbeitet werden, was die Begriffe „asozial“ oder „Berufsverbrecher“ in der Sprache der Nazis bedeuteten, wie beliebig Menschen stigmatisiert, an den Rand der Gesellschaft gedrängt, gequält und ermordet wurden. Mit einem modularen Konzept soll die Ausstellung fortlaufend erweitert werden können, zum Beispiel durch Rechercheergebnisse von jungen Menschen, die sich in der Schule oder in der Jugendgruppe mit den Geschichten von Verfolgten aus ihrer Heimat auseinandersetzen.

Darüber hinaus sieht der Koalitionsantrag unter anderem eine stärkere Kooperation von Gedenkstätten mit Bildungseinrichtungen und lokalen Akteuren vor. Als Asoziale und Berufsverbrecher Verfolgte werden zudem explizit als Leistungsberechtigte in die Härterichtlinien des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes aufgenommen. Es ist also nicht die vollständige Anerkennung; es ist die Anerkennung im Sinne der Härtefallregeln. Damit wird für alle ersichtlich, dass die Überlebenden einen Anspruch auf finanzielle Leistungen haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich sehr, dass die vorliegenden Anträge von fünf Fraktionen dieses Hauses im Grunde das gleiche Ziel haben. Man fragt sich: Warum nicht gleich ein gemeinsamer Antrag? Ich sage hier unumwunden: Ich hätte das begrüßt, und die SPD-Fraktion auch.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Simone Barrientos [DIE LINKE]: Wir auch!)

Aber es gibt nicht erst seit Thüringen den Beschluss der Unionsfraktion, keine gemeinsamen Initiativen mit der Linksfraktion zu unterstützen.

(Simone Barrientos [DIE LINKE]: Nicht mal bei diesem Thema!)

Daran ist ein gemeinsamer Antrag letztlich gescheitert.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die brauchen halt noch etwas!)

„Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“ Das waren die Worte meines guten Freundes und KZ-Überlebenden Max Mannheimer, der letzte Woche 100 Jahre alt geworden wäre.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass sich die Schrecken des Nationalsozialismus nie wiederholen. Deshalb dürfen wir nicht vergessen, und zwar keine einzige Opfergruppe. Alle müssen wir sie zu ihrem Recht kommen lassen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Hartmut Ebbing.

(Beifall bei der FDP)

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Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7427799
Wahlperiode 19
Sitzung 146
Tagesordnungspunkt Anerkennung von NS-Opfergruppen
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