04.03.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 148 / Tagesordnungspunkt 31

Boris Pistorius - Aufnahmebereitschaft von Städten und Kommunen

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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man Bundestagsdebatten sonst von außen oder in der Berichterstattung verfolgt, dann fragt man sich, ob das alles echt sein kann. Aber das gerade war noch unappetitlicher, als ich es mir hätte vorstellen können, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Enrico Komning [AfD]: Daran werden Sie sich gewöhnen müssen!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Europa will mehr sein als ein gemeinsamer Markt, will mehr sein als ein bloßer Verbund einzelner Staaten, will mehr sein als eine bloße Verwaltung. Europa will eine Wertegemeinschaft sein, eine Gemeinschaft, die Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde garantiert. Europa will aus seiner Geschichte lernen.

Bei meinem zweiten Besuch auf Lesbos im November vergangenen Jahres musste ich leider eine bittere Niederlage dieser Wertegemeinschaft erleben. Mitten in Europa – und man kann das gar nicht oft genug betonen – hausen Kinder alleine und schutzlos unter Planen oder in einfachsten Zelten ohne geregelte medizinische Versorgung. Ärzte vor Ort berichten, die Verhältnisse seien zum Teil schlimmer als in den Krisengebieten Afrikas, in denen sie zuvor gewesen seien. Und das alles, meine Damen und Herren, weil es das sogenannte gemeinsame europäische Asylsystem nicht schafft, ihnen Obdach zu gewähren.

(Jan Ralf Nolte [AfD]: Wie viele nehmen Sie denn zu Hause auf, Herr Pistorius?)

Wie konnte es so weit kommen? Wie entwürdigend ist es, dass dort keine sanitären Anlagen sind, dass Kinder buchstäblich im Müll leben? Das Schlimmste: Den Kindern fehlt es am Nötigsten, an Schutz und Fürsorge. Es sind die Schwächsten, meine Damen und Herren, die weder etwas für die Konflikte dieser Welt können noch für die Entscheidungen ihrer Eltern.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die SPD fordert seit Jahren ein einheitliches europäisches Asylsystem mit – und darauf muss Wert gelegt werden – einem funktionierenden europäischen Grenzschutz.

(Enrico Komning [AfD]: Die SPD wird es bald nicht mehr geben!)

Wir hätten heute nicht diese Probleme an der Grenze, wenn konsequent gehandelt worden wäre. Warum die personelle Aufstockung von Frontex verschoben worden ist, bleibt mir bis heute ein Rätsel. Aber, meine Damen und Herren, die Probleme auf europäischer Ebene dürfen eben nicht dazu führen, dass wir nicht tun, was wir können, um Kindern zu helfen.

(Beifall bei der SPD)

Sie brauchen diesen Schutz; sie brauchen ihn nötiger als alle anderen.

Deshalb habe ich nach meinem Besuch zusammen mit zwei meiner Kollegen Herrn Seehofer angeschrieben und um ein Sofortprogramm für Kinder gebeten. Es geht nicht um ein Aufnahmeprogramm, das sofort und ungeprüft mit einem Aufenthaltsstatus verbunden ist. Nein, es geht darum, den Dublin-Mechanismus zu nutzen, um für ein paar Hundert Kinder das Asylverfahren in Deutschland, also im geschützten Raum, durchzuführen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich wundere mich einigermaßen über die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und ihre unterschiedliche Wahrnehmung ihrer Rolle im Bund und in den Ländern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Überall da, wo Sie in Opposition sind, fordern Sie vollmundig, große Zahlen von Flüchtlingen zu übernehmen. Da, wo Sie in der Verantwortung sind, zögern Sie oder stehen nicht an der Spitze.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der AfD und der FDP – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mittlerweile haben sich uns weitere Bundesländer angeschlossen, und nach meinem Wissen haben das auch fünf europäische Staaten getan. Die Zustimmung der Bundesregierung steht nach wie vor aus. Wenn immer alle warten, bis alle mitmachen, macht am Ende keiner etwas. Diese Stunde ist vorbei, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Ich bitte daher dringend darum, dass der Bund seiner Verantwortung gerecht wird und unsere Koalition der Willigen aus Ländern und Kommunen machen lässt. Ich erwarte, dass wir die Zustimmung des Bundesinnenministers in Kürze bekommen – zum Schutz der Menschen, ihrer Würde und zum Schutz der europäischen Werte.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schließen mit einem Zitat von Erich Maria Remarque, dem großen deutschen Schriftsteller und Sohn meiner Heimatstadt, der Friedensstadt Osnabrück. Er hat einmal sinngemäß gesagt: Die Humanität sei die Frage seines Zeitalters, des 20. Jahrhunderts. – Wenn das so war, dann ist sie erst recht die Frage des 21. Jahrhunderts.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vielen Dank, Herr Minister. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion ist der Kollege Benjamin Strasser.

(Beifall bei der FDP)

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Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7431567
Wahlperiode 19
Sitzung 148
Tagesordnungspunkt Aufnahmebereitschaft von Städten und Kommunen
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