Christian LindnerFDP - Vereinbarte Debatte - Bewältigung der Corona-Krise
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei Wochen liegt die Regierungserklärung zur Coronakrise zurück. Seitdem hat sich die Lage dynamisch entwickelt. Experten haben mehr als einmal ihre Einschätzungen korrigiert. Wir sehen hier im Plenum, dass sich die Lage dramatisch verändert hat. Wir entnehmen es der Tatsache, dass sich die Regierungschefin selbst in häuslicher Quarantäne befindet. Wenn Gesundheit und Freiheit gleichermaßen gefährdet sind, dann lernt man ihren Wert neu kennen. Unsere guten Wünsche gelten jetzt Frau Merkel, den Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses, die infiziert sind oder sich in Quarantäne befinden müssen, und vor allen Dingen allen Menschen im Land, die betroffen sind.
(Beifall im ganzen Hause)
Unser Dank gilt all denen, die jetzt in diesen Tagen mehr tun als nur ihre Pflicht: in Krankenhäusern, aber auch bei der Polizei und bis an die Supermarktkasse. Jetzt erfahren die Menschen den Respekt und die Aufmerksamkeit,
(Zuruf von der LINKEN: Nicht alle!)
die ihnen auch in gewöhnlichen Zeiten hätten zuteilwerden sollen.
(Beifall bei der FDP)
Das öffentliche und das wirtschaftliche Leben sind heruntergefahren, um die Ausbreitung von Corona einzudämmen und zu bremsen. Manche haben Zweifel. Beim jetzigen Wissensstand wären die Alternativen aber riskant. Es geht um Menschen. Wer denkt bei den Bildern aus Italien nicht an die eigene Familie? Ich denke nicht an statistische Größen, sondern an meine Omas. Deshalb sind die aktuellen Freiheitseinschränkungen verhältnismäßig.
(Beifall bei der FDP)
Der aktuelle Zustand widerspricht aber der menschlichen Natur. Er passt nicht zu den Werten einer offenen Gesellschaft. Er ist eine Gefahr für den sozialen Frieden, weil schon in der allernächsten Zeit die Akzeptanz der Menschen sinken könnte. Er ist eine Gefahr für unser wirtschaftliches Leben, weil irgendwann der ökonomische Schaden irreparabel sein könnte.
Mit dem heutigen Tag muss es deshalb darum gehen, diesen Zustand Schritt für Schritt, aber so schnell wie möglich zu überwinden. Von der Ertüchtigung des Gesundheitswesens über die Bereitstellung von flächendeckenden Tests auf Corona muss nun die Regierung, müssen die Behörden in Ländern und Kommunen alles unternehmen, damit die Menschen schnellstmöglich in die Freiheit zurückkehren können.
(Beifall bei der FDP)
Heute berät und beschließt der Deutsche Bundestag über ein Paket zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen. Regierung und Opposition tragen in diesen Zeiten eine gemeinsame staatspolitische Verantwortung. Diejenigen, die im Deutschen Bundestag die Oppositionsrolle wahrnehmen, tragen in den Ländern und auf der örtlichen Ebene auch exekutive Verantwortung. Deshalb haben wir intensiv beraten. Ich will der Bundesregierung und den die Regierung tragenden Fraktionen ausdrücklich für das konstruktive Klima danken, in dem wir miteinander über das, was heute zu entscheiden ist, gesprochen haben.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Aspekte haben wir beitragen können. Aspekte, die uns wichtig sind, haben Eingang in die Beschlussvorlagen gefunden, beispielsweise dass die Schwelle zur Stabilisierung von Unternehmen nicht bei 2 000 Beschäftigten, sondern bei 250 Beschäftigten liegt; dass Grundrechtseingriffe wie etwa das Auslesen von Mobilfunkdaten nicht hopplahopp in dieser Krise beschlossen werden, sondern sorgsamer zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal besprochen werden können; dass die Befugnisse des Infektionsschutzgesetzes, die dem Bund neu zuwachsen, zeitlich befristet sind, sodass in ruhigeren Zeiten diese Fragen neu aufgeworfen werden können.
Manches missfällt uns dennoch: Das neue Leistungsverweigerungsrecht und die Veränderungen im Mietrecht verlagern einseitig Belastungen; hier hätten wir uns Alternativen wie ein Sonderwohngeld gewünscht. Wir hätten auch an anderen Stellen das Paket der Großen Koalition modifiziert.
Aber darum geht es jetzt nicht; bei allen Unterschieden in der Einschätzung und im Hinblick auf zusätzliche wünschenswerte Maßnahmen geht es darum jetzt nicht. Wir sind gemeinsam als Fraktionen doch durch ein Ziel verbunden, nämlich Schaden vom deutschen Volk und der Bevölkerung abzuwenden. Deshalb werden wir trotz aller Bedenken im Detail den Beschlussvorlagen der Regierung heute zustimmen.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)
Jetzt ist die Stunde des Staates. Wir brauchen ihn bei allem, was über die Fähigkeit, individuell Verantwortung zu übernehmen, hinausgeht. In genau so einer Situation befinden wir uns jetzt, wo wir die staatlichen Möglichkeiten, alles, was er fiskalisch in die Waagschale werfen kann, nutzen müssen.
Aber auch die Möglichkeiten des Staates sind begrenzt. Wir nutzen jetzt das, was wir an Fähigkeiten haben. Aber auf Dauer wird auch der starke deutsche Staat nicht in der Lage sein, eine Volkswirtschaft zu stabilisieren, die nicht ins Leben zurückfindet. Irgendwann wird auch jemand dafür zahlen müssen, was wir jetzt an Schutzschirmen aufspannen. Deshalb werden wir in der Zeit nach der Krise auch über die weitere Finanzplanung und die Vorhaben der Regierung neu sprechen müssen. Ich erwarte eine Repriorisierung vieler Vorhaben; denn es wird darum gehen, dass wir die langfristigen wirtschaftlichen Folgen dieser aktuellen Krise nicht zulasten von Bürgerinnen und Bürgern und nächsten Generationen einseitig verteilen.
(Beifall bei der FDP)
Wir werden auch noch darüber sprechen müssen, ob die jetzt beschlossenen Maßnahmen wirklich treffsicher sind. Wir sorgen uns um den kleinen Mittelstand, um die Betriebe mit zwischen 10 und 250 Beschäftigten, die in den vergangenen Jahren viel von dem abgegeben haben, was sie erwirtschaftet haben. Es war, Kollege Brinkhaus, nicht der Staat, der gut gewirtschaftet hat, es waren die Menschen, es war der Mittelstand, die gut gewirtschaftet haben.
(Beifall bei der FDP und der AfD)
Deshalb sind uns Möglichkeiten zugewachsen. Und genau diejenigen in der Mitte der Gesellschaft, die so viel von ihrer Leistung abgegeben haben in den vergangenen Jahren und damit solidarisch waren, die dürfen jetzt erwarten, dass die staatliche Gemeinschaft in diesen Krisenzeiten mit ihnen auch solidarisch ist.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)
Deshalb hätten wir uns gewünscht, dass die Schwelle nicht bei 250, sondern bei 50 Beschäftigten liegt. Ich rege an, bei den nächsten Gelegenheiten, bei denen wir über die Modifikationen der Sicherheitsnetze sprechen, diese Frage noch einmal miteinander aufzurufen.
In Nordrhein-Westfalen – um ein Beispiel zu nennen – hat die dortige Landesregierung entschieden, mit eigenen Mitteln auch Unternehmen bis 50 Beschäftigte eine Soforthilfe von bis zu 25 000 Euro zu zahlen. Das ist eine Praxis, die für Deutschland insgesamt vorbildlich ist, eine Entscheidung, die auch die Bundesregierung hätte treffen können.
(Beifall bei der FDP)
Wir werden über das Tempo der Hilfen sprechen müssen. Wir haben nichts einzuwenden gegen die Programme, die über die KfW aufgelegt werden. Aber wir sehen mit Sorge die administrative Überlastung bei privaten Geschäftsbanken und in den öffentlich-rechtlichen Strukturen. Deshalb ist es aus unserer Sicht empfehlenswert, dass wir die Möglichkeiten auch unserer Finanzbehörden nutzen. In guten Zeiten mag sich mancher ärgern über die Leistungsfähigkeit unserer Finanzbehörden – in diesen Zeiten könnten wir sie gut nutzen, um unbürokratisch und schnell über das Steuerrecht Liquiditätshilfen zu gewähren.
(Beifall bei der FDP)
Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden uns nach der Krise mit Fragen der Zusammenarbeit in Europa und darüber hinaus beschäftigen müssen. Eine Debatte über neuen Protektionismus und Abschottung ist ja nahezu unvermeidlich. Aber eigentlich ist die Schlussfolgerung aus der Coronakrise eine andere: dass nicht Abschottung hilft, dass nicht die Aufgabe der internationalen Arbeitsteilung sinnvoll ist, sondern im Gegenteil: Die eigentliche Lehre ist doch, dass man eine Menschheitsaufgabe, eine Menschheitsherausforderung wie eine Pandemie, nicht im nationalstaatlichen Kontext bewältigen kann, sondern dass Corona eigentlich der Anlass ist, ganz neu über internationale Kooperation, das Lernen voneinander und Multilateralismus zu sprechen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)
Jetzt erteile ich das Wort der Vorsitzenden der Fraktion Die Linke, Amira Mohamed Ali.
(Beifall bei der LINKEN)
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Electoral Period | 19 |
Session | 154 |
Agenda Item | Vereinbarte Debatte - Bewältigung der Corona-Krise |