23.04.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 156 / Tagesordnungspunkt 10

Alexander Graf LambsdorffFDP - Europäische Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In zwei Stunden – wir haben es gerade gehört – beginnt der Gipfel der Staats- und Regierungschefs, und es steht zu erwarten, dass es keine weitreichenden Schlussfolgerungen des Rates geben wird, vielleicht gibt es sogar nur eine Erklärung des Vorsitzes.

(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Wenn überhaupt!)

Warum? Man kann sich einmal mehr nicht einigen, weil ein Spaltpilz hineingetragen worden ist in die Debatte der Staats- und Regierungschefs, in die Debatte der Mitgliedstaaten. Und dieser Spaltpilz heißt: Vergemeinschaftung der Schulden. Ich halte es – das will ich hier deutlich sagen – für einen Kardinalfehler, insbesondere der italienischen Regierung, dieses alte Instrument aus der Finanzkrise jetzt in der Coronakrise neu aufzumachen

(Zuruf der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

und es damit unmöglich zu machen, dass sich Europa in der Krise einigt. Europa wird gespalten. Wir brauchen aber nicht mehr Spaltung; wir brauchen Einigkeit in Europa.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich kann nicht verstehen, dass hier in diesem Haus die sonst, was Europa angeht, wirklich recht konstruktiven Grünen diesen Spaltpilz befördern, ihn bewässern und das Geschäft von Matteo Salvini besorgen.

(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist mir ein absolutes Rätsel, warum das hier geschieht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du weißt es besser!)

Sie schreiben in Ihrem Antrag, wir müssten deswegen, weil wir von der Krise unterschiedlich betroffen seien und unterschiedlich stark reagieren könnten, in die Vergemeinschaftung einsteigen. Warum sind wir unterschiedlich betroffen? Warum können wir unterschiedlich reagieren? Das eine – dafür kann niemand etwas – ist einfach das Virus. Das andere, die Fähigkeit zur Reaktion, hat etwas mit solider Haushaltspolitik zu tun.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Grünen haben die schwarze Null jahrelang immer wieder abgelehnt. Es ist aber die schwarze Null der letzten Jahre, die es uns möglich macht, so kraftvoll zu reagieren, wie das hier der Fall ist.

Wie kann es also gehen? Wir von den Freien Demokraten machen fünf sehr konkrete Vorschläge.

(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Märchenstunde!)

Erstens – das ist das Wichtigste –: Menschenleben retten, praktizierte europäische Solidarität, indem Patientinnen und Patienten überall in Europa in Krankenhäusern behandelt werden, wo Betten frei sind.

(Beifall bei der FDP)

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn De Masi?

Von wem?

Vom Kollegen von der Linken.

Gerne.

Gut.

Volontier. Avec plaisir.

Man kennt sich. Vielen Dank. – Herr Kollege Lambsdorff, ich stelle Ihnen diese Frage auch als deutsch-italienischer Finanzpolitiker, der selber das Ergebnis einer sehr handfesten deutsch-italienischen Zusammenarbeit ist.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das lassen wir jetzt mal so stehen.

Ist Ihnen bekannt, weil Sie hier über Haushaltsdisziplin gesprochen haben, dass Italien in den letzten 24 von 25 Jahren als einzige industrialisierte Volkswirtschaft Primärüberschüsse, Haushaltsüberschüsse vor Zinsen erwirtschaftet hat, aber dadurch die Wirtschaft ins Koma gefallen ist und die Schulden nicht verringert werden konnten?

(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Zahlen der Kommission!)

Ist Ihnen bekannt, dass, wenn die Europäische Zentralbank eine entsprechende Anleihe kaufen würde, es überhaupt kein Haftungsrisiko für Deutschland gäbe, weil eine Zentralbank niemals in der eigenen Währung pleitegehen kann?

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Und wissen Sie, dass die Alternative doch ist, dass Italien einen Geldautomaten in Frankfurt stehen hat, weil die Europäische Zentralbank bereits angekündigt hat, notfalls italienische Staatsanleihen zu kaufen? Dann kann Deutschland überhaupt nicht mehr mitreden.

Ist es angesichts einer EU-Kommission, die seit 2011 die Mitgliedstaaten 63-mal aufgefordert hat, die Gesundheitsausgaben zu kürzen, nicht an der Zeit, dass wir gemeinsam in den Wiederaufbau investieren, weil uns sonst der Euro um die Ohren fliegt und es auch für die Menschen hier in Deutschland noch teurer wird?

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Graf Lambsdorff.

Das war jetzt eine ganze Menge. Ich versuche, das stakkatoartig zu beantworten. – Mir ist bekannt, dass der italienische Schuldenstand bei circa 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt.

(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Drüber sogar! 135!)

Das ist das Doppelte dessen, was die Maastricht-Kriterien erlauben. Mir ist auch bekannt, dass jedenfalls in dem Antrag der Grünen, den wir hier heute beraten, nicht von der EZB gesprochen wird, sondern von gemeinschaftlich aufgenommenen europäischen Schulden. Es geht tatsächlich um ein anderes Instrument. Mir ist auch bekannt, dass handfeste deutsch-italienische Zusammenarbeit immer das Beste für Europa ist. Dahin sollten wir zurückkehren und nicht über Spaltpilze diskutieren, die diese italienische Regierung einführt.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU])

Ich war bei den fünf Punkten, die die Freien Demokraten vorschlagen. Erstens – das habe ich gesagt –: Menschenleben retten. Zweitens: Werte schützen. Wir brauchen klare Kante gegen die Kaczynskis und Orbans, die die Krise ausnutzen, um ihre Macht auszubauen. Drittens: Finanzen mobilisieren, ja, aber gleichzeitig auch auf finanzielle Solidität in der Zukunft achten. Viertens: Grenzen so schnell wie möglich wieder öffnen, damit der Binnenmarkt da funktioniert, wo es gesundheitlich möglich ist. Und fünftens: Handlungsfähigkeit der Europäischen Union für die Zukunft stärken, damit man mit solchen Krisen umgehen kann.

(Christian Petry [SPD]: Von nichts kommt nichts!)

Lassen Sie mich zu diesem Punkt etwas sagen. Es war sehr bemerkenswert, dass vom Kollegen Hahn gerade Ministerpräsident Söder erwähnt worden ist. Er hat ja massiv gegen die Europäische Kommission geledert, sie habe nicht genug getan. Die Kommission hat das getan,

(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sie konnte!)

was die Mitgliedstaaten von ihr erwarteten, nämlich so gut wie nichts, weil sie praktisch keine Kompetenzen hat. Stattdessen haben wir mit Beteiligung des BMI national eine Ausfuhrsperre verhängt, und wir haben Grenzschließungen vorgenommen, die so willkürlich sind,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

dass man sich wirklich fragt: Wie um Gottes Willen kann man rechtfertigen, dass auf der Fahrt von Linz nach Passau kontrolliert wird, aber auf der Fahrt von Pilsen nach Weiden nicht? Wo ist da die virologische Begründung für die Kontrollen an der bayerischen Staatsgrenze? Mir fehlt sie.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich glaube, das Södern und Seehofern gegen Europa wird uns nicht weiterbringen.

Deswegen fand ich spannend, was die Bundeskanzlerin heute Morgen in der Regierungserklärung gesagt hat – Frau Präsidentin, das ist mein letzter Punkt. – Sie hat gesagt, dass wir uns zum Umgang mit grenzüberschreitenden Pandemien überlegen müssen, welche Zuständigkeiten der Europäischen Union man in Brüssel bündelt, damit wir das in der Zukunft besser machen. Für mich ist der Lackmustest: Wie werden der Freistaat Bayern und das Bundesinnenministerium mit diesem Vorschlag der Frau Bundeskanzlerin umgehen?

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vielen Dank, Alexander Graf Lambsdorff. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Andrej Hunko.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7441928
Wahlperiode 19
Sitzung 156
Tagesordnungspunkt Europäische Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie
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