23.04.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 156 / Tagesordnungspunkt 13

Rudolf HenkeCDU/CSU - Bewältigung der Corona-Krise

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Das Glas ist ein bisschen leer. Ich bin nicht sicher, ob daraus schon getrunken wurde. Ist das Wasser frisch?

Selbstverständlich haben Sie frisches Wasser. Wir haben das Glas nur nicht so vollgeschenkt.

(Aydan Özoğuz [SPD]: Sie trinken es ja eh nicht!)

Alles gut, ich habe es nicht verfolgt.

So frei wie möglich, so wörtlich wie nötig. Das war der Spruch meines alten Lateinlehrers – neun Jahre Latein –, der uns immer gesagt hat, wie man übersetzen muss. So frei wie möglich, so wörtlich wie nötig. Und deswegen ist mir die Überschrift des Antrags, den wir jetzt hier diskutieren, erst mal sehr sympathisch. So viel Freiheit wie möglich, nicht mehr Einschränkungen als notwendig. Wer wollte dem widersprechen? Aber was sich widerspricht, liebe Kolleginnen und Kollegen, die diesen Antrag einbringen, ist doch: Was stimmt denn jetzt? Entweder war die Bundesregierung mit ihren Entscheidungen zu spät, entweder war sie zu zögerlich oder das, was Sie jetzt vorschlagen, ist Unsinn, weil Sie darin ja geradezu vorschlagen, für alle Bereiche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns jetzt die Öffnung zu ermöglichen. Und das, finde ich, widerspricht sich total. Denn Sie sagen ja: Am Anfang wart ihr nicht vorsichtig genug, und wir haben gemahnt, ihr müsstet vorsichtiger sein. – Sie kritisieren die Weltgesundheitsorganisation dafür, nicht vorsichtig genug gewesen zu sein.

Nachdem wir mit Aufwand und Mühe – übrigens ohne Ihre Zustimmung; denn hier im Plenum haben Sie sich enthalten – die Maßnahmen beschlossen haben, die jetzt gültig sind, und damit zu einer Reproduktionsrate von 1,0 gekommen sind, sagen Sie jetzt: Ihr müsst die Beschränkungen früher aufheben.

(Detlev Spangenberg [AfD]: Die war vorher schon da!)

– Ja, die war vorher schon da. Und wer wusste das? Sie Schlauberger! Sie Schlauberger! Wann kam denn die Mitteilung des RKI? Ich habe hier das „Epidemiologische Bulletin“ des RKI. Welches Datum trägt das? 17. April 2020. Da steht es doch drin.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sind Sie denn die Hellseher, die das am 22. März gewusst haben? Dann hätten Sie es uns doch am 22. März mal sagen sollen. Haben Sie aber nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Damals haben wir Anstiege der Infektionsrate von 30 Prozent am Tag gehabt. Damals waren wir bei einem R0-Wert zwischen 2,6 und 3,8.

(Detlev Spangenberg [AfD]: Lesen!)

Und da sagen Sie jetzt, weil sich später herausgestellt hat, dass die Maßnahmen, die eingeleitet worden sind von der Bundesregierung und von den Bundesländern und die von uns gutgeheißen worden sind, eine Wirkung gehabt haben bis zum 22. März: Man kann jetzt alles wieder aufmachen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist unverantwortlich, weil Sie damit völlig an der Notwendigkeit vorbeigehen, Daten auch integriert und wissenschaftlich seriös zu interpretieren. Sie tun jetzt so, als hätte man hellsehen müssen, als wäre es so gewesen.

Entschuldigen Sie, Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Ja, ich erlaube.

Gut. – Herr Spangenberg.

(Aydan Özoğuz [SPD]: Das wird jetzt nicht besser dadurch!)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Verehrter Kollege, ich habe gesagt: Nachdem das bekannt ist, halten Sie die Maßnahmen trotzdem aufrecht, obwohl wir bei einer Reproduktionsrate von unter 1 sind; deswegen brauchen wir diese Maßnahmen nicht mehr aufrechtzuerhalten. Das war meine Rede. Ich war nicht der Hellseher; das habe ich deutlich gesagt. Oder ich habe mich falsch ausgedrückt. Dann sage ich es noch einmal: Jetzt wäre das nicht mehr nötig. Das ist der dritte Punkt: erst zu spät, dann übertrieben und jetzt zögerlich. So ist es gesagt worden, und das bitte ich zu beachten.

Vielen Dank.

(Abg. Detlev Spangenberg [AfD] will wieder Platz nehmen)

Sie müssen noch stehen bleiben.

Herr Spangenberg, ich antworte Ihnen gerne, und ich erinnere an die Lage von Mitte März: Da betrug das tägliche Wachstum der Infektionen 30 Prozent. Bei einer Fortsetzung dieser Dynamik hätten wir zu Ostern eine völlige Überlastung aller gesundheitlichen Versorgungseinrichtungen in Deutschland erlebt. Wir hätten zu Ostern 10 Millionen Infizierte und einen gänzlich unerfüllbaren Bedarf an Intensivbetten von 140 000 gehabt. Und diese Gefahr bleibt, weil es ja jederzeit wieder mit einer vergleichbaren Dynamik in bestimmten Regionen oder auch flächendeckend losgehen kann.

(Abg. Detlev Spangenberg [AfD] will wieder Platz nehmen)

– Noch nicht.

Lieber Herr Spangenberg, Sie selbst trauen ja Ihren eigenen Worten nicht. Denn in Ihrem Antrag – neben diesem Ganzen „Öffnerei, Öffnerei und Öffnerei“ und „Reproduktionsrate 1“ und „Wir müssen uns keine Sorgen mehr machen“ – fordern Sie unter Punkt 8, „die getroffenen Maßnahmen wöchentlich zu überprüfen“ und: „Der Bundestag ist dabei, in angemessener Weise zu beteiligen.“ Werter Herr Kollege Spangenberg, wenn Sie das wöchentlich überprüfen wollen, wie sehr trauen Sie denn dann Ihren eigenen Aussagen? Das wäre doch dann gar nicht nötig. Das ist doch nur nötig, wenn Sie befürchten, dass es total schiefgehen kann.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dann muss ich – und das ist der letzte Teil der Antwort – zur wöchentlichen Überprüfung, lieber Herr Spangenberg, bei allem Respekt sagen: Wir haben eine Inkubationszeit, die eher bei über einer Woche als unter einer Woche liegt. Wir haben dann eine asymptomatische Erkrankungsphase, an deren Ende der Höhepunkt der Infektiosität liegt. Dann kommen zum ersten Mal Symptome, sodass Tests durchgeführt werden können. Dann wird es noch ein paar Tage dauern, bis die Tests ausgewertet sind.

(Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist die Woche schon rum!)

Am Ende dieser Tests beginnt dann der Meldeverzug, bis wir es in den Erhebungen erleben.

(Aydan Özoğuz [SPD]: Aber Herr Spangenberg weiß es schon vorher!)

Deswegen brauchen Sie eine längere Beobachtungszeit, um zu beurteilen, ob eine Maßnahme sich deletär und fatal auswirkt oder nicht.

So, jetzt ist es aber genug. Jetzt bitte hinsetzen. Jetzt geht die normale Rede weiter.

(Zuruf des Abg. Detlev Spangenberg [AfD])

– Nein, Herr Spangenberg. – Bitte, Herr Henke.

Deswegen sage ich, dass diese Gefahr, von der Sie selber ausgehen – sonst wäre ja keine wöchentliche Überprüfung der Maßnahmen nötig –, weiterhin besteht. Dass wir das Schlimmste abwenden konnten, ist eine riesengroße Gemeinschaftsleistung aller Bürgerinnen und Bürger, aller politisch Verantwortlichen im Land, von allen Aktiven in Gesundheitsberufen, aus der Wissenschaft, aus den Gesundheitsämtern.

Natürlich verstehe ich, dass hier jetzt eine rege Debatte stattfindet. Aber welche Konsequenz tragen Sie denn bitte schön vor? Herr Gauland, Ihr Fraktionsvorsitzender, hat heute Vormittag hier gesagt – ich zitiere ihn –:

Die Quarantänemaßnahmen laufen längst selbstorganisiert. Der Staat ist dabei weitgehend überflüssig. Es wird also Zeit, die Beschränkung der Grundrechte zu lockern und die Schutzmaßnahmen in die private Verantwortung der Bürger zu überführen.

(Beifall bei der AfD)

Das heißt – auch nach Ihrem Applaus jetzt –, dass Sie das, was wir hier alles beraten – jeden Vorschlag, jede Kontroverse –, für überflüssig erklären und dass Sie sagen, der Staat habe da gar keine Funktion. Dem widerspreche ich ausdrücklich. Das halte ich für ein Taschenspielertum.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Und Sie glauben das auch nicht selbst. Sie tragen diesen Antrag nicht deswegen hier vor, weil Sie das Virus eindämmen wollen, sondern weil Sie die AfD ausbreiten und weil Sie dazu jeden Unmut in der Bevölkerung nutzen möchten, um Identifikation zu erzeugen.

(Widerspruch bei der AfD)

Ich finde, das ist eine Art von Auseinandersetzung, die ich einfach nicht billigen und gutheißen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Natürlich führen wir eine rege politische Diskussion; das ist gut so. Sowohl die Leopoldina als auch Experten der Helmholtz-Gemeinschaft haben systematische epidemiologische Analysen der Bevölkerung gefordert. Wir befürworten ein Infektionsmonitoring als Entscheidungs- und Bewertungsgrundlage. Wenn Sie mich als Arzt fragen, dann sage ich: Ich wünsche mir ein Dashboard mit den wichtigsten relevanten Daten, möglichst in Echtzeit, so realitäts- und tagesnah wie möglich: über Neuinfektionen, Verdopplungszeit, Reproduktionsrate, Todesfälle, verfügbare Betten, Intensivplätze, Übersterblichkeit, Beatmungsplätze, Menschen in häuslicher oder institutioneller Isolation oder Quarantäne, Informationen zur Nachverfolgbarkeit, Bewegungsdaten und, und, und.

Aber Sie gaukeln eine falsche Sicherheit vor. Sie wollen Profit daraus schlagen und sagen: Wir öffnen jetzt einfach und haben dabei keine Sorgen. – Das, finde ich, darf nicht passieren. Wenn Sie als Kronzeugen den Präsidenten der Bundesärztekammer zitieren, dann zitiere ich aus dem, was er mir geschrieben hat. Er schreibt nämlich, dass eine rein politisch bzw. ökonomisch motivierte sofortige Wiederherstellung weiter Teile des öffentlichen Lebens, wie sie derzeit von verschiedenen Seiten gefordert wird, aus ärztlicher Sicht nicht verantwortbar ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist die Antwort der Bundesärztekammer zu diesem Thema.

Kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.

Ich komme zum Schluss. – Wahr ist natürlich auch, dass Arbeitslosigkeit, Armut, Überforderung, Repression und Angst krankmachen können. Und auch darauf muss man achten. Wirtschaft und Gesundheit sind keine Gegensätze, und manch einer müsste vielleicht klarer sagen, nach welchem Monitoringsystem man sich richten soll. Aber bei Ihnen sehe ich nur den Rückzug der staatlichen Verantwortung und nicht hinterlegte Öffnungsforderungen ohne Garantie für den Gesundheitsschutz der Beteiligten. Das kann ich nicht billigen, und deswegen bin ich sehr dafür, dass das Parlament den von Ihnen gestellten Antrag sorgfältig berät, aber dann ablehnt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Den nächsten Redner sage ich mit großer Wehmut an. Es ist die letzte Rede eines sehr geschätzten Kollegen.

(Beifall)

Ich weiß, wovon ich spreche, weil wir sehr intensiv, sehr gut und sehr kooperativ und konstruktiv in der Mitarbeiter- und Mitarbeiterinnenkommission zusammengearbeitet haben. Deswegen ist es die Wehmut. Gleichzeitig hoffe ich für Sie, dass Sie diesen Schritt nicht schrecklich bereuen werden – das werden Sie natürlich tun –, sondern dass Sie eine gute Zukunft vor sich haben. Wir werden Sie nicht vergessen.

Der nächste Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Stefan Ruppert.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7441956
Wahlperiode 19
Sitzung 156
Tagesordnungspunkt Bewältigung der Corona-Krise
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine
Automatisch erkannte Entitäten beta