07.05.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 158 / Tagesordnungspunkt 15

Mahmut ÖzdemirSPD - Grundrechte in der Corona-Krise

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Anträge, bei denen man sich schon beim Lesen fragt: Wie soll die AfD-Rednerin eigentlich diese vier Seiten Antrag, die planlos zusammengeklaubt sind, im Deutschen Bundestag begründen?

(Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD])

Gelungen ist es Ihnen nicht. Wir fragen vielleicht mal beim BfV für Sie nach, ob es irgendwie einen Nachhilfekurs Grundrechte oder so etwas gibt. Ich würde mich gerne auch mit dem Kollegen Amthor dazu bereit erklären, als Nachhilfelehrer zu fungieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der Versammlungsfreiheit und der Religionsfreiheit Geltung verschaffen zu wollen, ist ein ehrenwertes Anliegen. Ich frage mich allerdings, wo Sie, liebe AfD-Fraktion, die vergangenen Wochen waren, als die Menschen in diesem Land über das Osterfest die Einschränkungen mit größter Disziplin und hohem Augenmaß erfüllt haben und so den Erfolg, gemessen an den Infektionszahlen, erzielten? Ihr Antrag liest sich wie ein schlechter Aufsatz zur Besprechung eines Bundesverfassungsgerichtsurteils, dem zu allem Überfluss auch noch die letzte Seite mit der Schlussfolgerung abhandengekommen ist. Ihnen fehlt schlicht die Haltung. Sie ziehen keine politischen Konsequenzen, Sie zeigen keinen Weg auf für eine Entscheidungsfindung, wie Veranstaltungen und religiöse Feiern wieder begangen werden können.

Sie sind darüber hinaus auch einfach spät dran. Denn viele demokratische Protestversammlungen und Zusammenkünfte zur Religionsausübung werden mit vernünftigen, mit notwendigen Beschränkungen und Auflagen schon längst wieder durchgeführt.

(Zuruf von der AfD: Um Gottes willen!)

Während Sie Anträge geschrieben haben, haben wir uns mit den Menschen zusammengesetzt und nach vernünftigen Lösungen gesucht, wie Versammlungen in diesem Land wieder möglich werden.

(Beifall bei der SPD)

So macht man Politik für die Menschen.

Die Versammlungsfreiheit und die Religionsfreiheit werden hier einfach zusammengewürfelt. Dabei verkennt die AfD-Fraktion, dass die Versammlungsfreiheit schon durch das Versammlungsgesetz beschränkt wird und die Religionsfreiheit nur durch Güter von Verfassungsrang überhaupt in die Schranken verwiesen werden kann. Darüber hinaus ist jede Maßnahme einer Verwaltungsstelle immer zugleich auch eine Einzelfallentscheidung. Diese unterliegt der verwaltungsinternen, der gerichtlichen, aber auch der parlamentarischen Kontrolle nicht zuletzt über die Rechtmäßigkeit und das Ermessen.

Man spürt bei diesem Antrag oft förmlich, dass sich die AfD-Fraktion ärgert. Sie ärgert sich darüber, dass der Antrag sich überholt hat. Sie ärgert sich darüber, dass dieser Rechtsstaat intakt ist; denn ein intakter Rechtsstaat entzieht Ihnen Ihre Existenzberechtigung mit allen Behörden, die wir zur Verfügung haben.

(Beifall bei der SPD)

Zu Ihren Forderungen im Einzelnen: Darauf hinzuwirken, dass Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen Geltung zu verschaffen ist, verkennt schlicht, dass dies bereits im Gesetz steht. § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz einfach mal lesen! Lesen bildet schließlich. Folglich würde eine Missachtung einen Rechtsverstoß darstellen. Ich nehme an, dass Sie nicht hier pauschal Vorwürfe gegen Regierungen und Rathäuser erheben wollen, dass sie vorsätzlich sich nicht an Recht und Gesetz halten.

Angemessene Begehung von religiösen Veranstaltungen und insbesondere das letzte Geleit von Verstorbenen werden von Kommunen und dem geistlichen Beistand unter den gegebenen Umständen sehr sensibel gehandhabt, und Beschränkungen hier werden auch, wie ich finde, sehr gut erklärt. Das heißt, auch hier brauchen die Menschen keinen AfD-Antrag.

Sie fordern letztlich Mustervorschriften des Bundes. Erst mal muss man das verstehen. Ich hatte gerade mit der Kollegin Haßelmann eine Diskussion darüber, was Sie überhaupt meinen;

(Jochen Haug [AfD]: Das ist ja auch keine Volljuristin! – Weitere Zurufe von der AfD)

das ist nicht so richtig klar geworden. Wozu es aber angesichts einer einvernehmlichen Konferenz der Länder mit der Kanzlerin solche Vorschriften braucht – wir können ja nur mutmaßen –, ist schlicht schleierhaft. Hier verkennen Sie die Bedeutung des Bundesstaates. Das Grundgesetz schreibt dem Bund und den Ländern Kompetenzen zu. Unser Föderalismus ist stark und notwendig. Regionalen Besonderheiten wird von den Landesregierungen und Kommunen mit passgenauen Entscheidungen und kurzen Entscheidungswegen Rechnung getragen. Den Föderalismus durch Mustervorschriften schleifen zu wollen, halte ich für nicht zielführend, sogar für gefährlich.

Eines kann man Ihnen vielleicht am Rande noch mitgeben: Nur weil es Bundesländer gibt, in denen Ministerpräsidenten das Heft des Handelns in der Hand haben, die darum wetteifern, höhere politische Weihen zu erreichen, muss man nicht den Föderalismus über Bord werfen, wie ich finde.

Die Diskussion über die Einschränkung des öffentlichen Lebens haben wir vor Wochen geführt, und ich frage mich, warum Sie damals stillgehalten haben. Ich kann es Ihnen erklären: Wer Entscheidungen trifft und vorangeht, übernimmt Verantwortung. Und Sie wollen keine Verantwortung übernehmen für dieses Land,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Verantwortung auch für unbeliebte Maßnahmen, die zum Erfolg der Eindämmung der Pandemie deutlich beigetragen haben, und zwar – ich betone es immer wieder – aufgrund der Disziplin der Menschen in diesem Land.

Mit dem Stand von heute über das Gestern zu lästern, das tun Sie. Das ist nicht redlich, und es verkennt auch den Erfolg der Bürgerinnen und Bürger, den sie mit viel Disziplin und Hingabe erreicht haben.

Wir Sozialdemokraten haben den Grundrechten immer abwägend Geltung verschafft und damit derzeit wirksame Hygienekonzepte und Sicherheitskonzepte ins Werk gesetzt. Das geschah nämlich im Rahmen einer Verhältnismäßigkeit, im Rahmen einer Abwägung einer Zweck-Mittel-Relation. Das waren die Abwägungen mit den Grundrechten, die zu treffen waren. Die Normalität von vor der Pandemie ohne Mund-Nase-Schutz und Litern von Desinfektionsmitteln können wir in diesem Parlament nicht einfach herbeientscheiden. Jetzt schon in Erwartung einer etwaigen zweiten Infektionswelle, die uns hoffentlich erspart bleibt, von der Sie aber reden, vorauseilend einigen Bereichen einfach Absolution zu erteilen, ist daher der Versuch, faktenbasierte Entscheidungen durch Glücksspiel zu ersetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wichtig ist mir: Dieser Rechtsstaat, dieser Sozialstaat, die Kontrolle seiner demokratischen Institutionen durch unabhängige Gerichte war und ist in jeder Phase dieser Pandemie für die Bürgerinnen und Bürger erreichbar gewesen. Damit haben die Grundrechte immer ihren Schutz gehabt, damit haben die Grundrechte immer ihre Geltung gehabt, und die Gerichte, bis hin zum Bundesverfassungsgericht, haben ihnen auch Geltung verschafft, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Einen verwertbaren Beitrag von der AfD-Fraktion bzw. von der AfD-Opposition auf dem Weg zu solchen Entscheidungen habe ich noch nicht erblickt oder gehört.

(Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD])

– Ja, Sie reden. Sie sagen viel, aber Sie tun nichts.

(Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD])

Es ist keine Verantwortungsübernahme, was Sie hier tun. Sie reden über die Grundrechte und werden zugleich vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet. Sie haben grundrechtsfeindliche Tendenzen in Ihren eigenen Reihen, und dann wollen Sie diesem Deutschen Bundestag erklären, wie man Grundrechten Geltung verschafft!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP und des Abg. Niema Movassat [DIE LINKE])

Das muss man den Menschen draußen im Land aber auch mal erklären. Erklären Sie doch erst mal dem Bundesamt für Verfassungsschutz, wie Sie es mit dem Grundgesetz halten! Das wäre ein Anfang.

(Beifall bei der SPD)

Franz Müntefering hat einmal gesagt: Opposition ist Mist. – Frank-Walter Steinmeier führte fort und sagte: Dann ist dieser Mist eben Dünger für die Demokratie. – Ich setze niederrheinisch fort und sage: Nicht jeder Dünger taugt was.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Vielen Dank, Mahmut Özdemir. – Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir Ihnen!

Nächster Redner in der Debatte: Dr. André Hahn für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7444259
Wahlperiode 19
Sitzung 158
Tagesordnungspunkt Grundrechte in der Corona-Krise
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