07.05.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 158 / Zusatzpunkt 21

Christian PetrySPD - Aktuelle Stunde - Verfassungsgerichtsurteil zu EZB-Anleihekäufen

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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Weil das Grundgesetz gerade ein bisschen diskreditiert wurde, wozu mir eigentlich nur Shakespeares Satz „Hohle Töpfe haben den lautesten Klang“ einfällt, will ich einmal einen Punkt ins Bewusstsein rufen:

Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.

Das ist aus der Präambel. Dort heißt es: einem vereinten Europa in Frieden zu dienen.

Wenn man genau hinschaut, dann muss man feststellen: Der Begriff „nationale Zuständigkeit“ kommt im Grundgesetz nicht vor. Das Wort „national“ kommt zehnmal vor, sechsmal in dem Begriff „international“, einmal in dem Begriff „supranational“, aber auch dreimal in dem Begriff „nationalsozialistisch“. Das sollte der eine oder andere sich auch mal merken. Das finde ich bemerkenswert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Programm zum Staatsanleihekauf ist sinnvoll; das ist eben schon ausgeführt worden. Wo wären wir ohne dieses Programm? Es hat uns wirklich in der Krise stark stabilisiert, bis heute, und es wird auch weitergeführt werden.

Artikel 130 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union sieht vor, dass den nationalen Zentralbanken, also auch der Bundesbank, und der Europäischen Zentralbank selbst untersagt ist, Weisungen anzufordern oder entgegenzunehmen. Das ist eben schon genannt worden. Dafür gibt es eine Rechtsgrundlage. Das ist kein Ermessen; man kann nicht sagen: Wir können mal, wir sollten mal, wir müssen mal. Das ist festgeschrieben. Insoweit ist dies auch im Lichte dessen beachtlich, was das Bundesverfassungsgericht beschlossen hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Unser Verfassungsgericht hat festgestellt: Es gibt keinen Verstoß. Das PSPP, das Anleihekaufprogramm, ist rechtmäßig, auch im Rahmen des EAPP, nämlich des Euro-Systems zum Ankauf von Vermögenswerten und Investitionen. Es geht um Verhältnismäßigkeit, Abwägungen, Erläuterungen und mehr. Drei Monate sind Zeit, und ich glaube, die Signale wird die Europäische Zentralbank aufnehmen, auch wenn es keine Verpflichtung wird, und sie wird uns dazu auch Informationen zur Verfügung stellen.

Aber das Urteil hält der europäischen Politik auch einen Spiegel vor. Es dokumentiert die Handlungsunfähigkeit und den fehlenden Willen von Staats- und Regierungschefs in den letzten zehn Jahren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Man hat sich nicht einigen können, und man hat insbesondere der EZB die Krisenbewältigung übertragen. Das muss sich ändern. Das ist die Konsequenz, die wir aus diesem Urteil ziehen müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir hier gemeinsam in diesem Parlament sind auch gehalten, mehr Stellungnahmen gemäß Artikel 23 unseres Grundgesetzes abzugeben, was Entscheidungen auf europäischer Ebene angeht. Davon haben wir zu wenig Gebrauch gemacht. Auch das ist ein Spiegel, den wir vorgehalten bekommen, und das ist eine Aufforderung, hier verstärkt tätig zu werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Man sieht, wer über dieses Urteil jubelt: Das ist Ungarn, das ist Polen. Rechtsstaatlichkeit ist aus meiner Sicht deshalb künftig stärker an die finanziellen Verteilungen zu koppeln. Deshalb hat das Urteil auch etwas Gutes. Der Ball liegt in unserem Spielfeld, wie Metin Hakverdi es gestern im Ausschuss gesagt hat. Er liegt in unserem Spielfeld. Wir sind kein Bundesstaat, sondern ein Staatenbund, wie es Michael Link ausgeführt hat. Deshalb sind wir gezwungen, uns zu entscheiden, und das ist gut so. Jetzt trennt sich die Spreu vom Weizen: Solidarische Gemeinschaft oder egoistischer, kaltherziger Nationalismus? Solidarische Krisenbewältigung oder die anderen alleine an der langen Leine verhungern und dem Untergang entgegengehen lassen? Es wird sich hier klären. Die Spreu wird sich vom Weizen trennen. Wir werden uns hier erklären müssen. Das ist auch ein positives Signal dieses Urteils, finde ich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir werden also den Auftrag aus dem Urteil annehmen. Wir brauchen eine Weiterentwicklung der Finanzmärkte. Wir brauchen eine Vertiefung; sie ist dringend notwendig. Wir brauchen einen echten Europäischen Währungsfonds, eine Weiterentwicklung des ESM in Zusammenarbeit mit der Europäischen Zentralbank und der Investitionsbank. Wir müssen eine institutionelle Weiterentwicklung ins Auge fassen. Lieber Eckhardt Rehberg, da bin ich anderer Auffassung. Das müssen wir tun. Auch dafür ist das jetzt die Zeit. Der mehrjährige Finanzrahmen muss stärker mit Eigenmitteln ausgestattet werden. Hierfür sind die Anleihen ein Instrument, aber auch die Steuern. Auch das muss diskutiert werden, wie wir das im Kontext einer soliden europäischen Finanzierung hinbekommen. Dies wird uns auch in Deutschland weiterhelfen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin also dem Bundesverfassungsgericht dankbar für das Wachrütteln. Wer Europa in der Wirtschaftsunion vertiefen will, wer Europa in der Finanzunion vertiefen will, wer wie wir das soziale Europa stärken will, mit Arbeitslosenrückversicherung, europäischen Mindestlöhnen, Mitbestimmung und Ausbildungsgarantie, oder wer Europa als Motor des Friedens und der Abrüstung in einer Sicherheitsarchitektur fortentwickeln will, der muss jetzt diese Chance nutzen, die dieses Urteil gegeben hat. Wir und die Bundesregierung werden hier vorangehen, –

Herr Kollege, kommen Sie jetzt zum Schluss, bitte.

– hoffentlich mit dem Parlament. Machen Sie mit! Glück auf!

(Beifall bei der SPD)

Vielleicht darf ich darauf hinweisen, dass Fünf-Minuten-Beiträge in Aktuellen Stunden auch Fünf-Minuten-Beiträge bleiben sollten. Darauf kann man sich auch einstellen. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7444498
Wahlperiode 19
Sitzung 158
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde - Verfassungsgerichtsurteil zu EZB-Anleihekäufen
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