07.05.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 158 / Zusatzpunkt 21

Heribert HirteCDU/CSU - Aktuelle Stunde - Verfassungsgerichtsurteil zu EZB-Anleihekäufen

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von vorgestern sei – so wurde es in den Medien zum Teil beschrieben – ein Paukenschlag, ein Knall und Ähnliches. Wenn man wie ich bei der mündlichen Verhandlung vor einigen Monaten anwesend war, empfindet man es ganz anders; denn das, was jetzt festgestellt wurde, entspricht ziemlich genau dem, was damals in Karlsruhe erörtert wurde, was lange debattiert wurde und wozu wir als Bundestag auch Stellung genommen haben.

Lassen Sie mich deshalb zu den Kernfragen einige Anmerkungen machen. Der wesentliche Punkt ist – das ist schon mehrfach gesagt worden –: Es gab keinen Verstoß gegen das geldpolitische Mandat; es wurde nicht überschritten. Das ist gerade nicht festgestellt worden,

(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)

sondern es ist festgestellt worden, dass die Begründungszusammenhänge nicht so sind, wie man sie sich in Karlsruhe vorstellt – im Übrigen auch in anderen Fällen; ich denke nur an den assistierten Suizid, wo wir ganz ähnliche Diskussionen hatten –: dass nachvollziehbar ist, was in der Europäischen Zentralbank gemacht wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Das ist ein Punkt, den man sich ein bisschen auf der Zunge zergehen lassen muss; denn das, was in Karlsruhe erörtert wurde und jetzt auch im Urteil steht, sind die Punkte, in denen Deutschland aus der Sicht mancher durch die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank benachteiligt wird. Es werden nicht die Gewinner, sondern nur die Verlierer genannt. Das ist für ein Bürgergericht verständlich; es spiegelt aber nicht die komplette volkswirtschaftliche Dimension wider, wenn wir nur von den Sparern reden und die Arbeitnehmer nicht erwähnen.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Exakt!)

Gerade wenn wir über die Frage nachdenken, was die Anleihekäufe jetzt, in der Coronakrise, nach sich ziehen, wie das zu beurteilen sein wird, dann wissen wir: Es geht natürlich auch um die Diskussion über mögliche Insolvenzen, darum, ob das Geldgeben weitergeführt werden soll oder nicht. Diese Diskussion kommt hier sehr deutlich zum Ausdruck, und sie wird aus meiner Sicht etwas einseitig adressiert.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir sehen zweitens – das wird im Urteil ausdrücklich gesagt –: Es wird die Rückbindung auf das nationale deutsche Interesse verlangt. Das kann ich aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts verstehen; aber die Europäische Zentralbank hat ein anderes Mandat. Das passt nicht ganz zusammen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Johannes Schraps [SPD])

Deshalb müssen wir bei dieser Frage sehr genau überlegen – ich komme gleich noch darauf –, wie wir das am Ende umsetzen. Das ist schwierig.

Eine weitere große Baustelle ist die rechtspolitische Diskussion. Das Bundesverfassungsgericht sagt mit ungewohnter Deutlichkeit, dass es dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs nicht folgen will. Das ist noch nie vorgekommen. Für mich als Rechtspolitiker und als Rechtsvergleicher ist das – ich sage es ganz deutlich – traurig;

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Alexander Graf Lambsdorff [FDP])

denn es wird unsere Diskussion mit den Kollegen in Europa – wir haben schon gehört, dass Polen und Ungarn das Urteil aus falschen Gründen gelobt haben – und unsere eigene Akzeptanz erschweren. Das hätte ich mir so nicht gewünscht.

Damit kommen wir zu der Baustelle, die uns jetzt bevorsteht. Wir werden natürlich daran arbeiten, das Urteil umzusetzen. Ob ein zusätzlicher Unterausschuss die richtige Antwort ist, daran habe auch ich meine Zweifel. Ich habe den Richtern in Karlsruhe nicht nur einmal erklärt, wie oft wir hier über europäische Fragen reden: in dem von mir geleiteten Unterausschuss Europarecht, im Europaausschuss und in vielen anderen Ausschüssen – im Übrigen nicht immer nur öffentlich, weil es zur politischen Arbeit gehört, die Dinge erst einmal vorzubesprechen und dann zu entscheiden, ob wir gegen etwas vorgehen oder nicht. Manch einer, der dort Urteile spricht, hatte das so nicht gewusst.

(Zuruf von der FDP: Und was machen wir jetzt?)

Hier können wir aber noch nacharbeiten, und wir werden da nacharbeiten und die Diskussion transparent machen.

Wir müssen über die Frage nachdenken, ob es vernünftig ist, fünf Jahre auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts warten zu müssen, die uns sagt: Das war so nicht in Ordnung. Denn politisches Handeln setzt Verlässlichkeit voraus, auch im Verfahren, auch in der Außenpolitik. Da müssen wir jetzt überlegen, ob wir vielleicht an den entsprechenden Verfahrensordnungen etwas ändern.

Schließlich: Es ist wichtig, dass wir die Diskussion über die Begründung hier führen, aber auch, dass wir sie auf das gesamteuropäische Interesse zurückbinden, sie gemeinsam mit den Kollegen aus dem Europäischen Parlament, die primär in der Verantwortung sind, führen und damit hoffen, dass die EZB, die in dieser Frage autonom ist, uns die entsprechenden Informationen – Carsten Schneider hat es gesagt –, die sie sicher hat, auch zur Verfügung stellt.

In diesem Sinne: Lassen Sie uns zusammen an der Umsetzung des Urteils arbeiten!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Hirte. – Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7444501
Wahlperiode 19
Sitzung 158
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde - Verfassungsgerichtsurteil zu EZB-Anleihekäufen
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