07.05.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 158 / Tagesordnungspunkt 22

Hubertus HeilBundesminister für Arbeit und Soziales - Änderung des SGB IV

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise sind massiv. Viele Länder auf der ganzen Welt schauen in wirtschaftliche und soziale Abgründe. Ein Blick über den Atlantik zeigt die Dramatik: In den Vereinigten Staaten von Amerika sind in den letzten sechs Wochen 30 Millionen Menschen arbeitslos geworden. 30 Millionen Arbeitsplätze sind in den USA verschwunden.

Ja, auch bei uns in Deutschland stehen wir vor einer tiefen Rezession. Aber wir haben mit dem Mittel der Kurzarbeit eine starke, eine stabile Brücke über diesen wirtschaftlichen Abgrund gebaut, um Arbeitsplätze zu sichern. Wir retten derzeit Millionen von Arbeitsplätzen mit diesem Instrument. Ich finde, meine Damen und Herren – das kann hier auch mal gesagt werden –, es ist ein Zeichen der Stärke unseres deutschen Sozialstaats, dass wir das leisten können.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Klar ist aber auch, dass für viele Menschen Kurzarbeit – zumal wenn es länger dauert – mit erheblichen Lohn- und Gehaltseinbußen einhergeht. Wenn man als Beschäftigter das erlebt und gleichzeitig die laufenden Kosten nicht in Kurzarbeit sind, sondern Mieten, Zahlungen, Kredite weiterlaufen, ist das eine erhebliche Belastung für den Lebensstandard von Menschen.

Es ist deshalb richtig und notwendig, dass wir in diesem Bereich was tun. Ich bin froh und dankbar, dass wir uns in der Koalition zumindest darauf verständigt haben, das Kurzarbeitergeld für die Menschen, die ganz lange in Kurzarbeit sind, aufzustocken. Konkret – das ist der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen; das ist die Formulierungshilfe, die mit diesem Sozialschutz-Paket einhergeht – werden wir das Kurzarbeitergeld auf 70 bzw. 77 Prozent ab dem vierten Monat und auf 80 bzw. 87 Prozent ab dem siebten Monat erhöhen. Das gilt für alle Beschäftigten, deren Arbeitszeit durch Kurzarbeit um mindestens 50 Prozent reduziert ist.

Man kann sich immer mehr wünschen; andere wünschen sich gar nichts. Ich finde, es ist ein erheblicher Erfolg, dass wir ein deutliches Signal setzen: Die, die jetzt lange in Kurzarbeit sind – das werden nicht alle sein –, werden Unterstützung bekommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommt zu spät und ist zu wenig! – Gegenruf des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]: Besser spät als nie!)

Es ist auch richtig, dass wir die Möglichkeit eines Hinzuverdienstes zum Kurzarbeitergeld weiter erleichtern.

(Beifall des Abg. Michael Theurer [FDP])

Das Einkommen aus Nebenjobs – egal in welcher Branche; der Begriff „systemrelevant“ wird keine Rolle mehr spielen – hilft den Beschäftigten konkret, im Zweifelsfall auch Lohnlücken aufstocken zu können.

Beide Maßnahmen, meine Damen und Herren, sind sozial geboten und übrigens auch ökonomisch sinnvoll, weil wir gerade in dieser Phase durch diese Maßnahme einen Beitrag zur Sicherung der Kaufkraft in Deutschland leisten. Auch das hilft der Wirtschaft, meine Damen und Herren, weil es Nachfrage sichert.

Es geht zudem darum, dass wir durch eine pragmatische Lösung mithelfen, dass benachteiligte Kinder, die bisher an Schulen, in Tagespflegeeinrichtungen oder in der Kita ein warmes Mittagessen bekommen haben, auch in diesen Zeiten ein Mittagessen über das Bildungs- und Teilhabepaket bekommen, dort, wo Kommunen das anders organisieren.

(Abg. Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

– Herr Lehmann, bitte schön. Für Ihre Frage bin ich sehr dankbar. – Wenn ich ihm die Möglichkeit dazu geben darf, Herr Präsident?

Sie dürfen.

Ich freue mich, dass Sie dankbar sind über die Frage, die Sie noch gar nicht kennen.

Doch. Denn meine Redezeit ist so kurz, dass ich schon jetzt dankbar bin.

Das zeigt, wie gut wir im Ausschuss zusammenarbeiten. – Also, erst mal wollte ich was Lobendes sagen, Herr Minister, nämlich dass in der Tat zu Beginn der Krise die Regierung richtige Maßnahmen getroffen hat, vor allem beim erleichterten Zugang zur Grundsicherung und beim Kurzarbeitergeld. Wir als Grüne haben die Maßnahmen auch sehr unterstützt.

Wir haben aber auch immer gesagt, dass es Leerstellen gibt. Weil Sie gerade das Thema Mittagessen angesprochen haben: Eine der klaffendsten Leerstellen Ihrer gesamten Politik ist die strikte, eiserne, beinharte Weigerung, die Grundsicherung – und sei es auch nur durch einen krisenbedingten Zuschlag – in dieser Krise zu erhöhen. Und das betrifft vor allem Armutsrentnerinnen und ‑rentner, das betrifft vor allem Kinder und Familien, die in der Grundsicherung sind.

Es gab am Wochenende einen Appell in einer nie gekannten Breite von Gewerkschaften, von Sozialverbänden, von Kinderschutzverbänden, von Foodwatch. Die haben gesagt, dass Lebensmittelpreise höher geworden sind und es deswegen dringend einen Zuschlag auf die Grundsicherung geben muss.

Stattdessen schaffen Sie jetzt diese Mittagsessenregelung, also so was wie ein Lieferdienst mit Lunchpaket. Das ist erstens stigmatisierend, wenn demnächst ein Auto durch die Gegend fährt und vor den entsprechenden Häusern hält und alle Nachbarn dann wissen: Okay, die haben anscheinend zu wenig Geld, um das Essen selber zu bezahlen. – Es ist zweitens lebensfremd, wenn es in einer Familie mehrere Kinder gibt und die Kitakinder was anderes bekommen als die Schulkinder. Und es ist drittens vor allem bürokratisch, weil sich wahrscheinlich nicht überall Lieferdienste finden werden, die das zu diesem niedrigen Preis machen.

Ich möchte Sie wirklich dazu auffordern, diese Regelung zu überdenken und Ihre Verweigerungshaltung, die Grundsicherung auch nur um einen Cent zu erhöhen, aufzugeben. Das hätten die Familien, das hätten die Armutsrentnerinnen und ‑rentner verdient. Das wäre eine unbürokratische Regelung, die auch bei den Menschen ankommt. Bitte geben Sie endlich Ihre Blockadehaltung an dieser Stelle auf.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Lieber Kollege Lehmann, ich danke Ihnen für die Frage. Aber heute ist das Sozialschutz-Paket an der Reihe mit der Kurzarbeit, mit den Regelungen, die ich gleich noch beschreiben werde. Das heißt nicht, dass bei der Grundsicherung alles so bleiben wird, wie es ist. Wir haben den Zugang zur Grundsicherung in dieser Zeit gemeinschaftlich erleichtert, wie Sie wissen. Wir haben den Kinderzuschlag erhöht, was übrigens auch vielen hilft. Und über weitere Maßnahmen wird zu reden sein, gerade für Familien mit Kindern.

Aber ich will Ihnen mal eines deutlich sagen, und das geht an Sie persönlich: Meine herzliche Bitte ist, dass Sie bei dem Thema Schulmittagessen nicht solche Reden halten, sondern sich mal mit den Grünen in Potsdam unterhalten, die ausdrücklich gelobt haben, dass Flexibilität in diesem Bereich ganz wichtig ist. Schulmittagessen für Kinder als Stigmatisierung zu diffamieren – Sie sollten sich überlegen, was Sie an dieser Stelle sagen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Lieferdienst! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Er meint den Lieferdienst!)

Wir sichern die Möglichkeit, Schulmittagessen flexibel zu organisieren.

Herr Lehmann, es geht doch nicht um eine soziale Großtat, sondern es geht um eine pragmatische Lösung. Sie reden an dieser Stelle aus meiner Sicht nicht mit den Kollegen der Grünen beispielsweise in Potsdam und anderswo,

(Zuruf des Abg. Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

die sehr dankbar sind, dass wir es möglich machen, dass das Mittagessen jetzt in dieser Notlage auch über das Bildungs- und Teilhabepaket des Bundes abgerechnet werden kann. Wo leben Sie eigentlich?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es geht um konkrete Hilfen in der Not an dieser Stelle und nicht um Ihre Fantasien.

(Beifall bei der SPD – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie bringen ein paar Dinge durcheinander. Unterhalten Sie sich doch mal mit Ihrer Parteivorsitzenden Annalena Baerbock, die das in Potsdam begrüßt hat; kann ich Ihnen nur empfehlen. Es gibt schlaue Grüne, und es gibt das, was Sie hier dazu gesagt haben; das will ich einmal feststellen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Nein, das ärgert mich zutiefst. Herr Lehmann, ich schätze Sie sehr. Aber das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Wir werden über die Grundsicherung zu reden haben. Ich sage noch mal: Die Regelbedarfsermittlung ist auf der Tagesordnung, das wissen Sie ganz genau. Aber jetzt das Schulmittagessen, das mit pragmatischen Regelungen ermöglicht wurde, in ein schiefes Licht zu rücken, das finde ich nicht in Ordnung. Das finde ich wirklich nicht in Ordnung an dieser Stelle!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

– Nein. Ich finde, Sie werfen da einiges durcheinander, und ich bitte, einfach mal mit Ihren Kollegen in der Kommunalpolitik Kontakt aufzunehmen; die Telefonnummern sind bekannt.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Aufschlag wäre pragmatische Politik!)

Was mir auch am Herzen liegt, ist – und das ist in diesem Sozialschutz-Paket auch ein wichtiges Thema –, dass wir in diesen Zeiten dafür sorgen, dass kleine Kinder, die Entwicklungsschwierigkeiten haben – die oft auch Behinderungen haben –, auch in und nach der Coronapandemie wie gewohnt in ihren Familien unterstützt werden können. Die Rede ist in diesem Zusammenhang von den interdisziplinären Frühförderstellen.

Wir müssen die sozialen Dienste und Einrichtungen schützen und halten auch damit unsere Gesellschaft zusammen. Ich finde es sehr, sehr wichtig, dass das nicht unter die Räder kommt. Wir kümmern uns eben um die Schwächsten in dieser Gesellschaft, die jetzt besonders leiden, Herr Lehmann,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und zwar nicht durch Reden, sondern durch konkretes Handeln. Das können Sie unterstützen; davon bin ich überzeugt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Herr Präsident, meine Damen und Herren, ja, wir haben soziale Probleme auch über dieses Paket hinaus zu bearbeiten; das ist doch gar keine Frage. Wir schaffen mit diesem Sozialschutz-Paket II aber einen weiteren Schritt, um die wirtschaftlichen und die sozialen Folgen für die Menschen an dieser Stelle abzufedern.

In der tiefsten Rezession, die wir in unserer Generation bisher erlebt haben, kann sich der deutsche Sozialstaat mit dem, was geleistet wird, sehen lassen. Ich danke allen, die daran mitwirken – übrigens auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundesagentur für Arbeit und der Jobcenter, die das alles im Moment in wunderbarer Arbeit umsetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Sie helfen Menschen und halten nicht nur Reden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Personen

Dokumente

Automatisch erkannte Entitäten beta

Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7444538
Wahlperiode 19
Sitzung 158
Tagesordnungspunkt Änderung des SGB IV
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine
Automatisch erkannte Entitäten beta