Katja MastSPD - Aktuelle Stunde - Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! 800 Coronainfizierte gibt es in der Fleischindustrie in Deutschland. Ich habe die aktuellen Zahlen noch mal recherchiert: ungefähr 400, davon einige schon wieder geheilt, in Birkenfeld bei Müller Fleisch, in meinem Wahlkreis in Pforzheim, weitere noch in Bad Bramstedt in Schleswig-Holstein, in Coesfeld in Nordrhein-Westfalen. Und jeder einzelne und jede einzelne Infizierte ist einer bzw. eine zu viel.
(Beifall bei der SPD)
Die Coronapandemie macht eines deutlich: Sie richtet den Scheinwerfer darauf und ermöglicht diese Debatte. Ich bin den Grünen ausdrücklich dankbar für die Beantragung dieser Aktuellen Stunde, weil sie auch ermöglicht, dass wir uns gemeinsam vergewissern, wo wir stehen und wo wir in dieser Debatte vielleicht auch nicht stehen.
(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wo wir hinmüssen vor allem!)
– Ja, und wo wir hinmüssen; das gehört ja am Ende des Tages dazu.
Mir ist das wichtig, was Minister Heil als Verantwortung bezeichnet hat; ich bezeichne es immer als Geschäftsmodell. Das Geschäftsmodell der Fleischindustrie, und zwar das der gesamten Industrie – deshalb haben wir nämlich schon drei solche Pandemiefälle in Deutschland; es sind nicht einzelne Akteure; es ist ein System –, beinhaltet: wenig eigene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und einen Riesenlöwenanteil von Menschen aus Südosteuropa, die unter extremen Bedingungen, extremen Unterkunftsbedingungen und Transportbedingungen, dort täglich schuften.
Deshalb geht es mir auch in dieser Debatte um die Frage: Wer hat hier eigentlich im Sinne des Gemeinwohls, im Sinne eines Arbeitsschutzes für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Beschäftigte die Verantwortung? Die Verantwortung liegt bei der Fleischindustrie, Kolleginnen und Kollegen, als Allerallerallererstes,
(Beifall bei der SPD)
bei den Unternehmerinnen und Unternehmern, und zwar für die ganze Kette der Beschäftigten.
Was hier stattfindet, ist, dass man auf Subunternehmen verschiebt, auf Subsubunternehmen, auf Vermieterinnen und Vermieter, auf die Behörden, die angeblich nicht ordentlich kontrollieren, und alles Mögliche. Es geht darum: Die Verantwortung für diese Infektionsfälle liegt bei den Unternehmerinnen und Unternehmern, und es ist mir ganz wichtig, dass wir da gemeinsam klar haben, dass es darum in dieser Debatte geht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Natürlich ist es unerträglich – und ich glaube, für jeden Menschen, der das Herz am richtigen Fleck hat, muss es unerträglich sein –, dass mitten unter uns Menschen leben, die sich Matratzen in Unterkünften teilen, dafür Geld abgezogen bekommen, Arbeitszeiten haben, die weit über einen Zwölfstundentag hinausgehen, und oft sechs oder sieben Tage die Woche arbeiten. Das ist nicht überall der Fall. Aber es gibt doch verdammt viele Berichte darüber, die sich in diesem Bereich häufen, und deshalb müssen wir handeln.
Jetzt ist mir aber als sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete wichtig, dass hier nicht so der Slang reinkommt, wir hätten noch nie was getan. Wir haben mit unserer Arbeitsministerin Andrea Nahles den Mindestlohn durchgesetzt, übrigens mit vielen Stimmen hier aus dem Haus, die damals nicht mit in der Regierung waren. Wir haben Werkverträge und Leiharbeit reguliert, wenn auch, wie wir immer wieder merken, leider nicht genug. Die Mehrheiten waren nun mal so, wie sie waren. Aber wir haben etwas getan.
Weil ich weiß, dass er auch zuschaut, will ich ausdrücklich Karl Schiewerling für das gemeinsame Engagement danken, aufgrund dessen wir 2017 gemeinsam in der Koalition die Voraussetzungen für die Fleischwirtschaft massiv verschärft haben. Wir haben das Messergeld abgeschafft,
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
wir haben die Arbeitszeitdokumentation verschärft, und wir haben die Generalunternehmerhaftung bewirkt, und jetzt wissen wir: Wir müssen noch mehr tun.
Mir ist aber auch Folgendes wichtig, und deshalb will ich noch mal meine Kolleginnen und Kollegen von den Grünen anschauen – nach mir spricht ja auch Beate Müller-Gemmeke aus dem gleichen Bundesland wie ich –: Ich bin in Pforzheim Abgeordnete, und ich beschäftige mich – seit Ostern täglich mehrere Stunden, auch davor übrigens schon, viele Jahre – mit den Arbeitsbedingungen in der Fleischwirtschaft. 2013 waren bei mir im Wahlkreis ungarische Werkverträgler, die kein Geld gekriegt haben, die vor der Firma kampiert haben. Ich bin wirklich bewegt, betroffen, dass ich kein einziges Wort zu diesem Thema von einem Mitglied der Landesregierung in Baden-Württemberg höre.
(Ulli Nissen [SPD]: Hört! Hört!)
Das heißt nicht, dass ich Schwarze Peter hin- und herschieben will. Ich finde aber, zur Wahrheit in der Debatte gehört auch, dass wir eine Haltungs- und eine Zukunftsdebatte nicht nur im Deutschen Bundestag brauchen, sondern wir brauchen sie auch in allen Landtagen. Überall, wo wir Verantwortung haben, müssen wir uns gemeinsam hinstellen und das auch einfordern, egal wo wir aktiv sind.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Jetzt noch mal zu den Punkten, worum es mir geht, was verändert werden muss. Ein Projekt ist noch gar nicht erwähnt worden, nämlich das Projekt „Faire Mobilität“. Wir müssen dringend in der Koalition daran arbeiten, dass die Leute, die die Menschen beraten, die da zu schäbigen Bedingungen arbeiten, auch eine gute, dauerhafte Beratung bieten können – weg von der Projektförderung, hin in die dauerhafte Förderung.
Ansonsten sind viele Dinge gesagt worden: Kontrollen intensivieren, Arbeitszeitdokumentation, Arbeitsschutz ausbauen, auch gerne die Strafen ausbauen, die Justiz ermächtigen, Werkverträge in Kernbereichen der Produktion nicht zulassen. Es gibt viel gemeinsam zu tun. Ich nehme auch wahr, dass nicht nur die Regierungsfraktionen, sondern viele von der Opposition dabei mit uns unterwegs sind.
Lassen Sie uns die Kraft gemeinsam nutzen! Die Menschen in der Fleischindustrie brauchen uns.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist für Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Beate Müller-Gemmeke.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7445334 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 159 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde - Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie |