13.05.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 159 / Zusatzpunkt 1

Rainer SpieringSPD - Aktuelle Stunde - Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie

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Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Schwere Kost heute. – Ich fange mit einem Zitat aus meiner heimischen Zeitung an:

Wenn die Bedingungen jetzt für schlimm erachtet werden, warum hat sich in der Vergangenheit kaum jemand dafür interessiert? Etwa weil es sich um Ausländer handelt, die still ihre Arbeit zum Wohle und Wohlstand

– ich wiederhole: Wohlstand –

der Mehrheit verrichten? Das hat mich schon sehr nachdenklich gestimmt – und es ist keine linksliberale Zeitung.

Zum Kollegen Straubinger, der ja Karl Laumann zitiert hat. Von ihm kommt jüngst der Spruch: Die zu oft verletzte Würde des Menschen muss uns zu konsequentem Handeln anleiten.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Richtig! – Zuruf von der SPD: Ah ja!)

Dann zu Frau Schimke, die ja die Frage des Zusammenhangs zwischen dem Coronavirus und Arbeitsplatzbedingungen gestellt hat. Ich will Ihnen das kurz aufzeigen – das ist gar nicht schwer zu verstehen –: Folgen von Niedriglohn sind Niedrigeinkommen, nicht in der Lage sein, Wohnungen zu bezahlen, Massenunterkünfte, Infizierung durch das Coronavirus. – Ganz einfache Rechnung.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Kersten Steinke [DIE LINKE]: Versteht die aber nicht!)

Wir haben mehrere Möglichkeiten der Gesetzgebung angesprochen; ich glaube, das ist beim Arbeits- und Sozialminister auch in guten Händen. Ich will im Übrigen auch konzedieren, dass die Arbeits- und Sozialminister der Bundesrepublik Deutschland sich in diesem Bereich immer viel Mühe gegeben haben; aber sie treffen auf ein organisiertes System. Wenn wir über die Vorfälle in der deutschen Fleischwirtschaft sprechen, dann hat das einen Grund: weil die deutsche Fleischindustrie der Niedriglohnsektor schlechthin in Deutschland ist. Damit haben wir übrigens große Schlachtereien in benachbarten ausländischen Ländern plattgemacht.

Wir werden uns diesem System mit aller Konsequenz widmen müssen, und zwar nicht nur dem. Wenn man sich dem, was dort im Lohnsektor und im Sozialsektor passiert, zuwendet, dann stellt man fest, dass so, wie dort gearbeitet wird, Sozialversicherung nicht bezahlt werden kann. Überlegen Sie, was passiert, wenn das Schule macht, wie die Damen und Herren agieren, und schauen Sie sich unser Krankenhaussystem an, das im Moment gut finanziert ist. Stellen Sie sich einmal vor, all unsere tollen Mittelständler, alle Handwerker würden in die Sozialversicherung einzahlen wie die deutsche Schlachtindustrie. Würden Sie dann in ein deutsches Krankenhaus gehen wollen? Nein. – Deswegen gehört denen ordentlich auf die Finger gekloppt.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte es aber nicht bei der Schlachtwirtschaft belassen. Mit einem großen Teil des Niedriglohnsektors sind wir jetzt sehr stark konfrontiert: Das sind die Saisonarbeitskräfte – 300 000 Saisonarbeitskräfte pro Jahr, jenseits der deutschen Sozialversicherung.

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Staatlich legalisiert!)

– Staatlich legalisiert.

Heute Mittag hat es eine ganz interessante Frage in der Fragestunde gegeben, nämlich nach der Organisation: Wie kommen die Kolleginnen und Kollegen in dieses Land? Wie wird aufgezeichnet, dass sie ins Land kommen? Wie stark sind unsere Bemühungen, das zu kontrollieren? – Jetzt passiert ein Novum: Eine hoheitliche Aufgabe wird an einen großen deutschen Arbeitgeberverband, nämlich an den Bauernverband, gegeben.

(Lachen bei der LINKEN)

Ich habe die Bundeskanzlerin gefragt: Frau Bundeskanzlerin, wie sichern Sie den Datentransfer, dass wir wissen, wo sie oder er geblieben ist? – Wenn Sie heute Mittag aufmerksam zugehört haben, dann werden Sie feststellen: Das ist die einzige Frage, die sie nicht beantwortet hat.

(Stephan Protschka [AfD]: Richtig!)

Denn natürlich kann auch sie nicht beantworten, wie es gehen kann, dass man einer nichtstaatlichen Organisation hoheitliche Aufgaben übergibt. Ich finde es schlecht, dass das so gemacht wird.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stephan Protschka [AfD])

Folgen Sie jetzt bitte einmal einem älteren Herrn gedanklich.

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Manchmal verläuft man sich dabei ja!)

– Kann passieren. Ist Ihnen schon passiert, nicht?

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nein! Ich würde es ja machen!)

– Alles gut.

Folgendes Beispiel: Sie kommen hier an, sind zwischen 25 und 50 Jahre alt. Sie haben kein Geld in der Tasche. Sie werden irgendwo hingebracht, und Sie fangen an, dort zu arbeiten – 60 Stunden die Woche –, und Sie sind abends platt. Mit Essen und Trinken ist auch nicht viel, weil Sie ja ein geringes Einkommen haben. Stellen Sie sich jetzt bitte einmal die Situation vor: Sie kommen in dem Alter in so einen Schlafsaal, in so eine Kasematte. Das stelle sich bitte jede und jeder für sich vor. – Jeglicher Verlust einer Intimsphäre. Stellen Sie sich alleine – das sage ich Ihnen jetzt ganz deutlich – die Geräusch- und Geruchskulisse vor. Stellen Sie sich das einfach vor! Würden Sie das für sich wollen? Ich will das für mich, meine Angehörigen und die Menschen in diesem Land nicht.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Und ich will, dass Sie zum Ende kommen.

Deswegen will ich den Kollegen Heil – da es ein anderes Ministerium offensichtlich nicht tut –

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ja, das ist das zuständige Ministerium!)

darum bitten, klare Standards für den Mindestwohnraum eines Arbeitnehmers in diesem Land – egal wo er herkommt – festzulegen, und darum bitten, dass dieses Haus sich darauf verständigt, den Forderungen der NGG zu folgen.

Herzlichen Dank fürs Zuhören.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Kollege Spiering. – Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7445339
Wahlperiode 19
Sitzung 159
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde - Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie
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