Konstantin KuhleFDP - Aktuelle Stunde - Wahlrechtsreform
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! In der aktuellen Coronakrise sind die Grundlagen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens besonders unter Druck. Das gilt für die Marktwirtschaft, das gilt für den Rechtsstaat, und das gilt auch für die Demokratie. Wir haben als der gesamte Deutsche Bundestag die Pflicht, das Vertrauen in unsere Institutionen auch in dieser Coronakrise zu stärken. Deswegen muss gerade jetzt eine Reform des Wahlrechts auf den Weg gebracht werden, damit das Ansehen für die demokratischen Institutionen nach der Coronakrise keinen Schaden genommen hat.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Friedrich Straetmanns [DIE LINKE])
Dass wir das bisher nicht hinbekommen haben, ist die Schuld der Großen Koalition. Es ist aber nicht die Schuld der gesamten Großen Koalition; der Bösewicht ist die Union. Und innerhalb der Union ist es nicht die Schuld der gesamten Union; der Bösewicht ist die CSU. Und das muss man auch so ganz klar sagen.
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Deswegen hätten wir uns darüber gefreut, wenn hier auch ein konkreter Vorschlag gemacht worden wäre, statt nur zu sagen, was nicht geht. Denn dass bestimmte konkrete Vorschläge möglich sind, stellt die Große Koalition doch gerade selber unter Beweis.
In der letzten Woche war in der Zeitung zu lesen, dass geplant ist, mit Blick auf die Coronakrise eine Briefwahl einzuführen, dass geplant ist, bei den Aufstellungsversammlungen auf Digitalisierung und auf veränderte Delegiertensysteme zu setzen. Sie haben letzte Woche hier einen Vorschlag zum Thema Wahlkreiszuschnitt eingebracht. Sie friemeln am Wahlrecht herum und gehen den Elefanten im Raum nicht an, und das können wir Ihnen nicht durchgehen lassen, meine Damen und Herren; denn die Zeit drängt.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Man muss sich nur anschauen, wie es im europäischen Vergleich aussieht. Die Venedig-Kommission des Europarats sagt ganz eindeutig: Ein Jahr vor der Wahl muss die Reform des Wahlrechts abgeschlossen sein. – Dass so was in die Hose gehen kann, haben wir doch gerade in Polen gesehen. Wir müssen ein Zeichen dafür setzen, dass wir dazu in der Lage sind, auch mehr als ein Jahr vor der Wahl das Wahlrecht zu reformieren.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Friedrich Straetmanns [DIE LINKE])
Wir haben als Fraktion der Freien Demokraten gemeinsam mit den Grünen und den Linken einen Vorschlag eingebracht, der hier schon vorgestellt worden ist. Und jetzt haben Sie sich darüber beklagt, dass auf der Grundlage dieses Vorschlags keine Kompromissbereitschaft bestehe. Ja wie denn, wenn von Ihnen kein Vorschlag kommt?
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Der Vorschlag der Freien Demokraten, der Grünen und der Linken ist im November 2019 hier in den Deutschen Bundestag eingebracht worden. Über ein halbes Jahr haben wir darauf gewartet, dass von Ihnen etwas kommt. Über ein halbes Jahr haben Sie gesagt: Die Anhörung im Innenausschuss kann nicht stattfinden; wartet bitte, liebe FDP, liebe Grüne, liebe Linke, damit wir eine gemeinsame Anhörung zum Wahlrecht machen können! – Und es ist nichts gekommen.
Die Anhörung ist jetzt am Montag der nächsten Sitzungswoche. Es geht darin ausschließlich um den Vorschlag der FDP, der Grünen und der Linken. Ich freue mich darauf, dass die Sachverständigen sich mit unserem Vorschlag beschäftigen werden. Die werden bestimmt sagen: ein super Vorschlag.
(Philipp Amthor [CDU/CSU]: Ja, Ihre Sachverständigen!)
Aber dass wir nicht die Möglichkeit haben, zu entscheiden, ob dieser oder jener Vorschlag besser ist, das ist Ihre Schuld, das geht auf Ihr Konto.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wir hätten gerne einen alternativen Vorschlag in diese Anhörung am Montag der nächsten Sitzungswoche im Innenausschuss des Deutschen Bundestags eingebunden.
Meine Damen und Herren, sowohl der Kollege Grötsch als auch Frau Haßelmann haben hier ein Modell vorgeschlagen, das Bezug auf die Stärke nimmt, mit der ein bestimmter Bewerber einen Wahlkreis gewinnt. Der Kollege Frieser hat das dann hier ins Lächerliche gezogen,
(Philipp Amthor [CDU/CSU]: Sachlich widerlegt hat er es! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist typisch für ihn! Da mache ich mir nichts draus!)
und es ist auch da hinten in der Union über Frau Haßelmann gelacht worden. Es ist auch total in Ordnung, dass hier Argumente ausgetauscht werden und die Debatte hart in der Sache geführt wird.
Aber das Problem liegt doch tiefer. Das Problem besteht doch darin, dass Sie sich mittlerweile in der Unionsfraktion selber eingeredet haben – und das auch immer wieder hier darstellen –, wir hätten gar kein personalisiertes Verhältniswahlrecht, sondern ein Mehrheitswahlrecht mit Verhältniskomponente.
(Zuruf von der AfD: Sehr richtig!)
Und dass darüber gelacht worden ist, zeigt, dass das mittlerweile in Ihrer eigenen Fraktion geglaubt wird.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Das ist wirklich traurig,
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist traurig! Die kennen halt das Wahlrecht nicht!)
weil auf dieser Grundlage kein Kompromiss möglich ist. Wir haben weder ein Grabenwahlrecht noch ein Prä der Erststimme; wir haben ein Prä der Zweitstimme.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wissen die halt nicht!)
Und 50 Prozent der so ermittelten Mandate werden dann über Wahlkreise aufgefüllt.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer da lacht, der kennt das Wahlrecht nicht!)
Das ist in unserem Wahlrecht Tatsache – nicht andersrum. Und dass Sie so tun, als wäre es anders, ist für uns unglaublich schwierig, weil man dann nicht auf Augenhöhe miteinander verhandeln kann – ein großes Problem!
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Lieber Kollege Heveling, Sie haben hier einen wichtigen Satz gesagt, und zwar, dass es verschiedene Hebel gibt, die möglicherweise gezogen werden können. Manche dieser Hebel – das ist richtig – sind bisher nicht im Gesetzentwurf von Grünen, Linken und FDP enthalten. Wir sind bereit, über diese Hebel zu sprechen.
Ich will aber sagen, dass Sie hier besonders auf die Zahl der unausgeglichenen Überhangmandate Bezug genommen haben. Das sind diese 15 Mandate, die das Bundesverfassungsgericht zulässt. Das zeigt doch in Wahrheit Folgendes: Wenn man ein bundesweites Parlament aus Länderergebnissen zusammensetzen will und dabei die Hälfte über Wahlkreise bestimmen will, dann kommt es immer zu Verzerrungen. Bestimmten Fraktionen im Deutschen Bundestag kommt es darauf an, diese Verzerrungen möglichst klein zu halten. Und Ihnen kommt es gerade darauf an, diese Verzerrungen möglichst groß zu halten, möglichst zu Ihren Gunsten und möglichst so kompliziert, dass der Bürger es nicht mitkriegt. Und das kann nicht das Ergebnis unserer Wahlrechtsreform sein.
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der AfD)
Vielen Dank, Konstantin Kuhle. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Mathias Middelberg.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7446033 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 160 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde - Wahlrechtsreform |