14.05.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 160 / Tagesordnungspunkt 21

Esther DilcherSPD - Virtuelle Gerichtsverhandlungen

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Guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerichtsverhandlungen im Livestream, das mag auf den ersten Blick eine moderne, bürgernahe, vertrauensbildende Maßnahme sein, um den Menschen in unserem Land den Rechtsstaat wieder näherzubringen. Stärkung des Rechtsstaates – wir haben es gehört – ist auch das Anliegen der SPD-Fraktion und unserer Bundesjustizministerin, die bereits viele gute Gesetze auf den Weg gebracht hat und sich für den Pakt für den Rechtsstaat mit lauter Stimme starkmacht. Bund und Länder haben ihre Einigkeit bekundet, dass die Digitalisierung der Justiz einen wichtigen Beitrag dazu leistet, um Verfahren zu beschleunigen, und in dieses Bemühen haben wir auch großes Vertrauen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gleichwohl werden wir diesem Antrag keinesfalls zustimmen. Bisher ist eine Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung auch schon möglich, aber nur, wie Herr Dr. Ullrich es ausgeführt hat, wenn es vom Gericht gestattet wird, dass sich die Parteien, ihre Bevollmächtigten, Zeugen, Sachverständigen etc. pp. an einem Ort aufhalten und dann eine Übertragung dieser Vernehmung oder der Zeugenaussage in den Sitzungssaal stattfindet, allerdings keine Übertragung in oder für die Öffentlichkeit. Das muss man schon auseinanderhalten.

Zunächst wird der Antrag der FDP mit den Auswirkungen der Pandemie auf die Arbeitsfähigkeit der Justiz begründet. Ja, die Arbeitsabläufe verzögern sich momentan nicht unerheblich. Und ja, die Gerichtstermine werden derzeit aufgehoben und verlegt. Und ja, die Öffentlichkeit, also die Zuschauer bei Gericht, werden in der Anzahl begrenzt, um Abstandsregelungen einzuhalten. Das alles ist aber kein Grund, die von der FDP geforderten Maßnahmen unbefristet zu ermöglichen, so wie es in dem Antrag steht, und dies für die Zukunft zum Regelfall werden zu lassen.

Wir hören von Ihnen: aus der Krise lernen. Aber die Einschränkungen in dieser Krise lassen sich durchaus auch anders kompensieren, ohne dass zukünftig ein wichtiger Grundsatz verletzt wird, nämlich der eines fairen Verfahrens. Gerade dieser Grundsatz ist es aber, der das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat stärkt.

Für mich bedeutet der Antrag der FDP, die Krise zu nutzen, um die Verfügungsbefugnis der Parteien, die am Zivilverfahren beteiligt sind, zu stärken und die hoheitliche Befugnis der Richterinnen und Richter einzuschränken. Der Markt bzw. die Parteien sollen es dann richten. Nein, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der FDP, ein Richter oder eine Richterin, der oder die über einen bestimmten Sachverhalt entscheiden muss, der oder die muss auch den Rahmen und den Verfahrensablauf bestimmen, der zu einer angemessenen Würdigung der vorgetragenen Tatsachen und Beweise führt.

(Otto Fricke [FDP]: Aber doch nur im Rahmen der Anträge!)

Selbst einer befristeten Regelung würden wir da als SPD-Fraktion nicht zustimmen.

Anhand einiger Beispiele will ich die Probleme der von der FDP gewünschten Regelungen einmal aufzeigen. Zunächst sei vorangestellt, dass es für die Durchführung einer Gerichtsverhandlung, wie es Herr Dr. Ullrich auch schon gesagt hat, bestimmte Verfahrensgrundsätze gibt, auf die sich auch die Antragsteller zum Teil beziehen: rechtliches Gehör, Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und der sogenannte Beibringungsgrundsatz. Die spielen in Ihrem Antrag aber gar keine so große Rolle.

Beschäftigen wir uns mit den weiteren Grundsätzen, die eingehalten werden müssen, etwa dem Beschleunigungsgrundsatz. Danach muss das Gericht das Verfahren zügig durchführen. Nach Auffassung der FDP würden virtuelle Gerichtsverhandlungen zu Kosten- und Zeitersparnis führen. Dabei werden aus meiner Sicht aber verschiedene Dinge vermischt.

Virtuelle Gerichtsverhandlungen, wie von der FDP gefordert, betreffen hauptsächlich eine neue Möglichkeit, nämlich die Übertragung von Gerichtsverhandlungen per Livestream in die Wohnzimmer der Bevölkerung. Das mag zunächst ein charmanter Vorschlag sein, damit mehr Menschen einer Gerichtsverhandlung folgen und somit die Öffentlichkeit herstellen können. Manch ein Zuschauer würde sich dann aber schon wundern, dass eine Verhandlung live eben doch anders abläuft als bei Richter Hold oder Richterin Barbara Salesch. Man muss auch sehen, dass es sich da um Strafverhandlungen handelt, die sowieso etwas interessanter sind als normale Zivilverhandlungen, auf die sich ja Ihr Antrag bezieht. Aber zu einer Beschleunigung trägt eine Herstellung der Öffentlichkeit im Wohnzimmer keinesfalls bei, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Katrin Helling-Plahr [FDP]: Aber zu Transparenz!)

Verhandlungen sind derzeit abgesagt worden, weil Kontaktverbote oder ‑beschränkungen Richter dazu veranlasst haben, Termine zu verschieben, und weil Richterinnen und Richter den Kontakt zu Parteien und Anwältinnen und Anwälten – und auch den Kontakt untereinander – vermeiden wollten. Gerade für diesen Fall hätten sie aber auf die nach § 128a ZPO bereits bestehende Möglichkeit zurückgreifen können, Vernehmungen in den Sitzungssaal zu übertragen. Dafür brauchen wir den Vorschlag der FDP also nicht; denn zwischenzeitlich gibt es Plexiglasscheiben, Händedesinfektion, Masken, die man im Gerichtssaal tragen kann. Parteien können sich begegnen, ohne dass eine Ansteckungsgefahr gegeben ist. Aber der Grundsatz der Öffentlichkeit bedeutet: Jeder muss sich Kenntnis von Ort und Zeit einer Sitzung verschaffen können und im Rahmen der tatsächlichen Gegebenheiten Zutritt erhalten. Zweck ist die Sicherstellung der Transparenz der richterlichen Tätigkeit zur Förderung des Vertrauens in eine unabhängige und neutrale Rechtspflege.

Die FDP erklärt uns jetzt, die zivilgesellschaftliche Kontrolle der dritten Gewalt müsse auch in diesen Krisenzeiten möglich sein, und eine Teilnahme der Öffentlichkeit müsse auch ohne persönliche Präsenz der Zuschauer im Gerichtssaal möglich sein. Aber warum wollen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, dann die Liveübertragung von Gerichtsverhandlungen im Internet grundsätzlich auch in Nichtkrisenzeiten in die ZPO aufnehmen? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!

Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie ein Richter dann eine Zeugenaussage würdigen soll oder was es für einen Beklagten bedeutet, wenn er dem Kläger nicht gegenübersitzen kann? Der Richter muss die gesamte Verhandlung würdigen, und die Gelegenheit dazu bietet sich ihm nicht, wenn er die Verhandlung nur auf einem Bildschirm verfolgt. Der Richter muss eventuell auch würdigen, wie sich die Parteien verhalten, wie sie miteinander umgehen. Was macht zum Beispiel der Chirurg, der eine Operation verpfuscht hat und der nicht die Möglichkeit hat, den Geschädigten zu sehen, weil dieser beantragt, da einfach nicht hinzugehen?

Ich denke, es muss weiterhin dem Gericht überlassen bleiben, wie es das Verfahren gestaltet, damit es ein faires Verfahren bleibt, das auch die Objektivität und Neutralität des Gerichts und ganz besonders die Willkürfreiheit des Verfahrens gewährleistet.

Frau Kollegin.

Wenn wir daran festhalten wollen, dürfen wir den Forderungen der FDP nicht zustimmen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Kollegin Dilcher. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Friedrich Straetmanns.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Jürgen Martens [FDP]: Was war das für ein Theater!)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7446303
Wahlperiode 19
Sitzung 160
Tagesordnungspunkt Virtuelle Gerichtsverhandlungen
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