29.05.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 164 / Tagesordnungspunkt 29

Helge LindhSPD - Kopfverhüllungen (Kinder)

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dankenswerterweise hat die Rednerin der AfD bestätigt, was ich vorher schon wusste: Die AfD spricht genau dann über Antisemitismus, wenn damit Stimmung gegen Muslime gemacht werden kann. Sie spricht genau in dem Moment von Kindern, wenn sich das für antimuslimischen Rassismus nutzen lässt. Wenn sie von Frauenrechen spricht, dann geht es nicht etwa um die patriarchalen Strukturen innerhalb der AfD, sondern es geht darum, Stimmung gegen den Islam zu machen. Quod erat demonstrandum, Sie haben es wieder vorgeführt.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)

Die größte Unanständigkeit von Ihnen ist, den Begriff des Kindesmissbrauchs zu verwenden. Wo sind denn Ihre Anträge angesichts der Tatsache, dass es tagtäglich in diesem Land, völlig unabhängig vom Islam und völlig unabhängig von Kopftüchern, zu Kindesmissbrauch kommt? – Nichts lese ich, nichts, gar nichts! Sie sprechen von politischem Kindesmissbrauch. Ich verwahre mich entschieden dagegen. Das ist eine Verharmlosung des tagtäglichen Kindesmissbrauchs in diesem Lande. Das ist inakzeptabel und unappetitlich.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kollege Lindh, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Bayram?

Das ist eine Kollegin, die der Erkenntnis immer weiterhilft, deshalb selbstverständlich.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Martin Reichardt [AfD]: Brauchen Sie da Unterstützung?)

Vielen Dank, Frau Präsidentin, vielen Dank auch, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zugelassen haben. – Nun hat die Vertreterin der AfD vorgetragen, dass es ihr Ziel sei, die Gleichstellung, die Gleichberechtigung von Frauen zu befördern – insoweit würde ich sagen: es geht ihr um die Frauenrechte –, und die würden geschmälert, wenn man als Kind schon das sogenannte Kinderkopftuch trägt. Während sie das vortrug, habe ich mich gefragt: Ja, was ist denn bei den Frauen in der AfD falsch gelaufen, dass die Gleichberechtigung – für uns ja sichtbar – in einer Art und Weise erfolgt ist, dass sie noch nicht einmal die Frauen repräsentieren können, geschweige denn die Frauenrechte in ihrer eigenen Fraktion, der AfD im Deutschen Bundestag, vertreten können?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Zuruf von der AfD: Das verstehen jetzt nur Sie!)

Das ist eine komplexe Frage, aber eine einfache Antwort ist möglich. Die AfD darf übrigens auch jederzeit Fragen stellen. Das haben Sie früher gerne gemacht, aber weil meine Antworten zu gut waren, haben Sie mittlerweile davon abgesehen.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Zu Ihrer Frage. Ich stecke Gott sei Dank nicht in den Köpfen von AfD-Frauen und -Männern – das wäre auch schlimm und traumatisch –, aber ich habe eine Mutmaßung: Es war in den Ausführungen von Integration die Rede. Das ist problematisch; denn viele Frauen, die in diesem Lande Kopftuch tragen, sind hier geboren und aufgewachsen, sind Deutsche.

(Dagmar Ziegler [SPD]: Ja!)

Was ist da zu integrieren? – Eine Randbemerkung: Wir sollten auch darüber nachdenken, ob wir überhaupt den Begriff „Integration“ verwenden. Im Zusammenhang mit der AfD aber macht er Sinn; denn diese Partei ist der Beleg dafür, dass es so etwas wie Integrationsunfähigkeit in die deutsche Gesellschaft und Integrationsresilienz gibt.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Das lässt sich auch gut begründen. Integration setzt voraus – wenn man aus der Fremde kommt oder woher auch immer –, dass man sich seiner selbst bewusst ist, dass man so etwas wie eine eigene Identität hat, auch damit man das Andere annehmen kann. Da Sie sich aber offensichtlich, wie Ihre manische Besessenheit vom Kopftuch und vom Islam beweist, Ihrer Identität unsicher sind, selber nicht wissen, was Sie sind, nicht wissen, was Deutsch ist und deshalb wahrscheinlich immer zweifeln und Feindbilder suchen, kommen Sie auf solche Ablenkungsmanöver, und das endet dann in solchen Anträgen, solchen Fragestellungen und solchen Wortbeiträgen. Ich hoffe, ich habe Ihre Frage einigermaßen umfassend beantwortet.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Abgesehen davon glaube ich: Wir müssen in der ganzen Debatte noch weitergehen und auf einige Punkte hinweisen. Es ist kein Geheimnis – das wurde deutlich zum Ausdruck gebracht –, dass es auch innerhalb von Parteien und Fraktionen zum Thema Kopftuch bzw. Kinderkopftuch sehr unterschiedliche Meinungen gibt. Das ist gut und gar kein Problem. Ich denke aber, wir sollten uns die Muster, in denen wir diese Debatte führen, genauer ansehen.

Ein Argument, das verwandt wird – in der extremsten Form von der AfD, aber auch insgesamt –, ist, dass das Kopftuch ein Symbol für Ausgrenzung und Unterdrückung ist. Machen wir aber, wenn wir so sprechen, die Frauen, die Kopftuch tragen, nicht erst recht zu Opfern von Unterdrückung? Wir stigmatisieren die angeblich Stigmatisierten, und dann wollen wir, dass sie kein Kopftuch tragen, damit die von uns hervorgerufene Ausgrenzung wieder ausgegrenzt wird. Das ist aus meiner Sicht nicht wirklich schlüssig.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich nenne, neben diesem paradoxen Zusammenhang, ein Beispiel aus der Lebenswirklichkeit. Eine meiner Mitarbeiterinnen trägt Kopftuch. Sie hat im Übrigen mit Beginn des Gymnasiums das Kopftuch zu tragen begonnen. Das war eine eigenständige Entscheidung, wie sie sagt, und ich zweifle daran nicht. Diese Frau ist Akademikerin, macht Karriere, ist selbstbewusst und selbstständig. Wie kommt einer solchen muslimischen Frau wohl eine solche Dauerdebatte über Kopftücher vor? Hat jemand sie einmal gefragt? Sitzen hier Mädchen oder Frauen mit Kopftuch, die wir fragen? – Nein. Wir urteilen und richten über sie. Hat einer von Ihnen gefragt, was sie empfindet, was sie denkt, welche Motive sie hat? Der Begriff „Zwang“ steht immer im Raum, aber vielleicht ist es Selbstbewusstsein, vielleicht Stolz oder Religion oder auch der Ausdruck, sich von den Eltern zu emanzipieren? All das gibt es. Die Realität ist nuancenreich und differenziert. Sie selber empfindet es als zutiefst entwürdigend und übergriffig, dass über sie geurteilt und gesagt wird: Du bist Opfer des Zwangs, und du merkst nicht einmal, dass du Opfer des Zwangs bist. Du kannst nicht mal selbst denken. – Gerade so entwerten wir Menschen muslimischen Glaubens; so machen wir muslimische Frauen zu Opfern.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Sie sind aber nicht Opfer des Kopftuches; vielmehr sind sie Opfer solcher dämlichen Anträge und solcher dämlichen Kopftuchdebatten.

(Beifall der Abg. Dagmar Ziegler [SPD])

Wenn wir das nicht begreifen, dann tun wir das Gegenteil von dem, was wir eigentlich wollen, und stigmatisieren all diejenigen, denen wir Teilhabe und Berechtigung verschaffen wollen.

Ein Letztes.

Sie setzen jetzt aber den Punkt, ja?

Diese Mitarbeiterin von mir hat ihr eigenes Leben, ist selbstbewusst und hat im Gegensatz zu Ihnen etwas auf den Weg gebracht. Nehmen Sie sich an ihr ein Beispiel. Sprechen Sie mal mit ihr. Sie wäre bereit, mit Ihnen zu sprechen; Sie hingegen tun solches nie. Das sollte uns allen zu denken geben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Martin Reichardt [AfD])

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Christoph de Vries das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7448895
Wahlperiode 19
Sitzung 164
Tagesordnungspunkt Kopfverhüllungen (Kinder)
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