17.06.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 165 / Tagesordnungspunkt 4

Katrin BuddeSPD - Vereinbarte Debatte zum Gedenktag 17. Juni 1953

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 17. Juni 1953 ist ein besonderer Tag. Ohne ihn und die mutigen Frauen und Männer dieses Tages säßen wir heute nicht hier. Wir säßen nicht hier im Reichstag als ein Parlament des wiedervereinten Deutschlands.

Dieser Tag war der erste Nadelstich, der den Sozialismus, der die Diktaturen in der DDR und Osteuropa, der die Macht der Sowjetunion ins Wanken gebracht hat. Der 17. Juni war der erste Volksaufstand im sowjetischen Machtbereich. Und die Männer und Frauen, die damals, an diesem Tag, zu über 1 Million an mehr als 700 Orten in der ehemaligen DDR auf die Straße gegangen sind, sind keine tragischen Heldinnen und Helden, wie man es oft lesen kann; es sind mutige Heldinnen und Helden, und es sind die Wegbereiter unserer heutigen Demokratie.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ihnen gehört unser Respekt, unsere Anerkennung, und ihnen gebührt Ehre.

Tauchen wir mal ganz kurz in die Jahre 1952 und 1953 in der DDR ein. 1952 hatte die SED beschlossen, den Sozialismus planmäßig aufzubauen. Die kasernierte Volkspolizei wurde in eine Armee umgebaut und ausgebaut. Die pazifistische Phase der DDR wurde für beendet erklärt. Es kam zusätzlich zu Enteignungen und zur Überführung von fast allen Betrieben in das sozialistische Eigentum. Die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft wurde durchgesetzt. Die Länder wurden aufgelöst, die Landtage und die Landesregierungen verschwanden. Nachdem die scheindemokratischen Strukturen, die es noch gab, schon 1952 zur Farce verkommen waren, wurde mit der Einführung der 14 Bezirke die vollständige politische Kontrolle über die Verwaltung übernommen – kontrolliert, bestimmt, geführt von den Ersten Sekretären der SED-Bezirksparteileitungen. Das war das Ende aller demokratischen Möglichkeiten und die klare Ansage: Es gibt einen zentralistischen Einheitsstaat.

Wenn man sich die Originaldokumente von Walter Ulbricht heute mal in der Audiothek anhört, denkt man: Das ist echt peinlich. – Und man wundert sich, dass es dann hinterher noch Hurrarufe gab. Das wirkt wie eine schlechte Comedy, wenn man da reinhört. Aber, meine Damen und Herren, für die Menschen, die im Osten gelebt haben, war das etwas ganz anderes: Das war das endgültige Ende von Freiheit und Demokratie, es war gefährlich, es war beängstigend, und es war einschüchternd.

Der Plan ging nicht auf. Die Waren des täglichen Bedarfs wurden immer rarer, immer teurer, die Situation verschärfte sich. Noch mehr mittelständische Betriebe wurden verstaatlicht, die Eigentümer wurden inhaftiert. Die Zwangskollektivierungen in der Landwirtschaft wurden verschärft, Tausende Bäuerinnen und Bauern wurden inhaftiert. Und das war nicht nur in der DDR so, meine Damen und Herren; das war überall im sowjetischen Machtbereich so. Die Biografien dieser Männer und Frauen, der unschuldigen Bäuerinnen und Bauern, der Selbstständigen, der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Handwerker, der Intellektuellen, füllen die Gefängniszellen in den Erinnerungsstätten überall dort, wo es kommunistische Gewaltherrschaft gab.

Der Kampf gegen die Kirche verschärfte sich. Die Junge Gemeinde wurde als illegale Organisation verboten. Im April und Mai 1953 wurden Tausende Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten deshalb von Oberschulen und Universitäten verwiesen, weil sie Mitglied der Jungen Gemeinde waren, weil sie Christinnen und Christen waren.

Bis April 1953 flohen 300 000 Menschen in den Westen. Die Zahl der politischen Inhaftierten, der Häftlinge, stieg von 37 000 auf 67 000. Und auch wenn nach Stalins Tod auf Geheiß der neuen sowjetischen Machthaber die Marionetten in der DDR die vielen Repressionen wieder zurückgenommen haben: Es half nicht mehr, es war zu spät. – Die Machthaber hatten sich getäuscht – Gott sei Dank. Sie dachten, sie könnten es mit einer inszenierten Rücknahme der Normenerhöhungen noch verändern, in den Griff bekommen. Aber nein! Die Normenerhöhungen und die Repressionen waren der Anlass, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Aber es war bei Weitem nicht nur materieller Unmut.

(Beifall des Abg. Hermann Gröhe [CDU/CSU])

Der 17. Juni 1953 wuchs sich zu einem Volksaufstand aus, zu einer Massenerhebung mit Streiks und Demonstrationen. Und er mündete in weit mehr als materiellen Forderungen, nämlich in der Forderung nach freien Wahlen, dem Ende der deutschen Teilung, dem Rücktritt der Regierung und nach freien Gewerkschaften.

Wer sich die Originaldokumente von damals ansieht, der sieht die Hoffnung, der sieht den Mut, der sieht die Freude in den Gesichtern der Menschen auf den Straßen, der sieht, wie gut es ihnen tut, wenn sie in einer Gemeinschaft ähnlich Denkender für eine bessere Zukunft streiten. Damit hatten die Mächtigen in der DDR nicht gerechnet – und damit, dass sich das Volk erheben würde, schon gar nicht, genauso wenig übrigens wie im Herbst 1989.

Aber: Auch der Westen ist von diesem Volksaufstand in der DDR 1953 überrascht gewesen, genauso wie er es im Oktober 1989 war. Auch das gehört zur gesamtdeutschen Wahrheit. Keine der beiden Seiten des Kalten Krieges hatte mit solch einer Kraft und Zivilcourage gerechnet. Auch die Alliierten waren sowohl 1953 als auch 1989 überrascht und nicht wirklich erfreut, muss man sagen; denn sie hatten Angst, dass das dem Status quo der westeuropäischen Sicherheit schaden könnte.

Frau Budde, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Nein. – Niemand griff ein, niemand bezog wirklich Position für die Menschen unter sowjetischer Besatzung. Die Angst vor einem neuen Krieg war 1953 schlichtweg zu groß. Im Gegenteil: Hört man sich die Originaldokumente dieser Zeit, auch die des RIAS, an, stellt man fest, dass die DDR-Bürger schnell zur Besonnenheit aufgerufen werden. Es wurde gesagt: Eine Besatzungsmacht darf das eben. Die sowjetische Besatzungsmacht tat das auch: Sie rief das Kriegsrecht aus, ließ die Panzer rollen und beendete die Hoffnungen des 17. Juni blutig. Mehr als 50 Todesopfer, Tausende Inhaftierte und standrechtliche Erschießungen waren die Folge.

Und danach? Im Osten wurde der Volksaufstand totgeschwiegen und bewusst ausgeblendet, oder er wurde als Werk von ausländischen Faschisten, Kapitalisten und Agenten verunglimpft. Im Westen gab es zunächst große Aufmerksamkeit. Es wurde der Tag der deutschen Einheit, ein freier Tag. Aber was mit großer Aufmerksamkeit begann, endete schnell, je mehr sich die Teilung vertiefte, der Abstand da war und die Hoffnung auf eine deutsche Einheit schwand, mit einem Tag für Familienausflüge.

Aber der 17. Juni 1953 wurde auch benutzt, und zwar von allen, auch in der westdeutschen Politik. Adenauer begründete seine Politik der Westintegration damit, nur die Unterstützung der Westmächte werde die Wiedervereinigung bringen. Wehner hingegen forderte alle Besatzungsmächte auf, die Gespräche zu intensiveren und Anstrengungen in Richtung Wiedervereinigung zu unternehmen. Nur Brandt brachte es, für mich persönlich jedenfalls, auf den Punkt. Er sagte, für ihn war es ein Aufstand der Arbeiterklasse, in dem sich soziale und nationale Ziele verbanden. Er sagte: „Sie wollen demokratisieren, nicht restaurieren.“ Auch das ist durchaus eine Parallele zum Herbst 1989.

Der vergessene Tag? – Ich glaube, ja, aber bei mir persönlich nicht. Bei mir in der Familie wurde über den 17. Juni geredet, auch zu DDR-Zeiten, aber ich weiß inzwischen, dass das nicht überall der Fall war, auch im Westen nicht. Und trotzdem: Es ist wichtig, dass wir an den 17. Juni erinnern. Es war das erste Mal, dass sich das Volk erhoben hat Wir sind das den mutigen Menschen und Opfern des 17. Juni 1953 schuldig,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

wir sind das den Opfern der kommunistischen Diktatur, der Gewaltherrschaft der SED in den Jahren danach schuldig, wir sind das den mutigen Menschen des Herbstes 1989 schuldig, und wir sind es unseren Kindern schuldig. Denn wir dürfen Demokratie nicht verspielen. Wir müssen sie verteidigen, und wir müssen sie zukunftssicher machen.

Heute sind unsere Freiheitsrechte selbstverständlich für uns, auch für uns, die wir aus Ostdeutschland kommen. Aber sie waren es nicht immer. Sie wurden von den Frauen und Männern des 17. Juni 1953 und aus dem Herbst 1989 errungen. Im Jahr 2020 geht es darum, diese Rechte zu schätzen und zu nutzen als freie und mündige Bürgerinnen und Bürger, die die Frauen und Männer des 17. Juni 1953 unter den Bedingungen der Diktatur für einen kurzen historischen Augenblick auch waren. Deshalb muss der 17. Juni zum Lehrkanon an den Schulen und in der politischen Bildung gehören. Das ist wichtig, um die Wurzeln der Demokratiebewegung im Osten zu begreifen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD und der LINKEN)

Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die Fraktion der FDP ist die Kollegin Linda Teuteberg.

(Beifall bei der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7452411
Wahlperiode 19
Sitzung 165
Tagesordnungspunkt Vereinbarte Debatte zum Gedenktag 17. Juni 1953
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