Norbert MüllerDIE LINKE - Aktuelle Stunde: Sexuellen Missbrauch effektiv bekämpfen
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass wir heute in der Aktuellen Stunde darüber sprechen können, wie wir Kinder vor sexuellem Missbrauch besser schützen. Leider ist es erst wieder ein schlimmer Anlass – die schrecklichen Taten von Münster –, der dem Thema in der öffentlichen Wahrnehmung Bedeutung verleiht. Für die dort missbrauchten Kinder kommt alles, was wir heute diskutieren, zu spät, und wir können uns nur dafür entschuldigen, dass wir, dass die Gesellschaft diese Kinder nicht besser schützen konnte.
Das Thema Kindermissbrauch – da bin ich sicher – lässt niemanden hier kalt. Der Reflex der gefühlten Ohnmacht, der Wut, dem mit aller Härte zu begegnen, ist nur allzu verständlich. Aber ist es nicht seltsam, dass nach jeder entdeckten grausamen Missbrauchstat über härtere Strafen für Täter gesprochen wird, selten aber über einen guten Schutz für die Opfer?
Ich weiß, die Koalition will den Strafrahmen bei sexuellem Kindesmissbrauch erhöhen, um abzuschrecken. Aber die Erfahrung – darauf ist bereits hingewiesen worden – zeigt und die Wissenschaft bestätigt das auch: Harte Strafen halten pädophile Täter eben nicht von ihrer Tat ab. Die Haupttäter von Lügde wurden zu 12 und 13 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Dennoch hat der bestehende Strafrahmen sie von ihren Taten überhaupt nicht abgeschreckt. Was Täter ernsthaft schreckt, ist die Sorge, erwischt zu werden.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Nur das wird Täter mit pädophilen Neigungen von Missbräuchen abhalten.
Der beste Kinderschutz wäre, wenn jeder Täter wüsste, dass seine Taten mit allergrößter Wahrscheinlichkeit aufgedeckt werden.
(Zuruf von der CDU/CSU: Vorratsdatenspeicherung!)
In der Realität gehen wir aber davon aus, dass durchschnittlich in jeder deutschen Grundschulklasse mindestens ein Kind mit Missbrauchserfahrung sitzt. Stimmt das, so wird bisher nur ein sehr, sehr, sehr kleiner Anteil aller Missbräuche überhaupt aufgedeckt.
Ich glaube, wir brauchen einen ganz anderen Ansatz, um Kinder bestmöglich zu schützen, und möchte dafür vier Vorschläge unterbreiten.
Erstens müssen wir die Kinder selbst stärken. Darüber ist heute bisher sehr wenig geredet worden. Kinder, die die Erfahrung gemacht haben, dass sie in schwierigen Situationen von Erwachsenen gehört werden, und die Hilfe finden, werden sich eher wehren können.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Kinder, die wissen und die erlernen, dass sie Rechte haben, werden schwerer zu Opfern werden. Kinder aber, die erfahren mussten, dass ihnen in einer anderen Situation, vielleicht einer von weniger Tragweite, niemand geholfen hat, deren Probleme ignoriert wurden, werden sich nach einer verstörenden und beschämenden Missbrauchssituation schwerer zu helfen wissen.
Unser Ziel muss es sein, dass wir starke Kinder haben, die ihre Rechte kennen und die von klein auf erlernen, dass ihr Körper nur ihnen selbst gehört.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deswegen brauchen wir endlich die Kinderrechte im Grundgesetz, um Kinder selbst zu stärken.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Ich finde es maximal befremdlich, dass diejenigen, die hier sehr deutlich höhere Strafen für Täter fordern, zugleich die Stärkung der Kinderrechte ablehnen oder blockieren. Ich finde, das ist zynisch.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der AfD: Das hat doch miteinander gar nichts zu tun!)
– Doch, das hat was miteinander zu tun, und ich erkläre Ihnen das auch. Ich habe es eigentlich gerade versucht.
Ein Kind, das seine Rechte kennt, ein Kind, das selbstbewusst ist, ein Kind, das weiß, dass sein Körper nicht einfach übergriffig behandelt werden kann, ein Kind, das wertgeschätzt wird, und ein Kind, das die Erfahrung macht, dass es seine Rechte auch einfordern kann, das wird sich eher wehren können, und das wird dazu beitragen, dass Taten aufgedeckt werden und Tätern äußerst zügig das Handwerk gelegt wird. Das ist doch der Schlüssel.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zweitens brauchen wir eine noch bessere Sensibilisierung von Erzieherinnen und Erziehern, von Lehrerinnen und Lehrern, von Fachkräften in der Kinder- und Jugendhilfe. Gerade weil Täter häufig aus dem näheren Umfeld der Kinder kommen, sind Schule und Kita so wichtig. Das Personal dort muss so qualifiziert sein, dass es erste Anzeichen eines Missbrauchs professionell deuten kann und damit auch einen Umgang findet. Kinder müssen sich dort Fachpersonen anvertrauen, die mit ihnen zu tun haben, in dem Wissen, dass ihnen dann auch geholfen wird.
(Zuruf von der SPD: Richtig!)
Ein wesentliches Instrument hierbei bleibt Aufklärung. Und ja, das sollte tatsächlich bereits im Kindergarten beginnen. Denn was von den Rechten als Frühsexualisierung stigmatisiert wird – genau das haben Sie ja wirklich deutlich getan –, ermöglicht es jungen Menschen überhaupt erst, erlittenes Unrecht in Worte zu fassen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der AfD)
Kinder müssen lernen, dass sexualisierte Annäherung durch Erwachsene als Fehlverhalten einzuordnen ist, und sie müssen sich zur Wehr setzen können. Sensibilisierung von Kindern ist eben überhaupt keine Frühsexualisierung, sondern notwendig, damit sie sich wehren können.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der AfD: Sie nutzen den Missbrauch für Ihre ideologischen Vorhaben!)
Drittens brauchen wir eine bessere Ausstattung der Kinder- und Jugendhilfe. Die Jugendämter sind personell völlig unterbesetzt. Im Allgemeinen Sozialen Dienst fehlen Zehntausende Mitarbeiter. Eine gut funktionierende Kinder- und Jugendhilfe und leistungsfähige Jugendämter sind gelebter Kinderschutz. Wer im Jugendamt aber 100, 150 oder mehr Fälle auf dem Tisch hat, der übersieht vielleicht einen Missbrauch, und ich finde, Lüdge muss uns da eine Warnung sein.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Und viertens müssen wir Menschen mit pädophilen Neigungen helfen, nicht zu Tätern zu werden. Es gibt diese Menschen, und es gibt sie in gar keiner so kleinen Zahl. Wir brauchen endlich ein flächendeckendes Präventionsangebot für potenzielle Täter. Es gibt Menschen mit pädophilen Neigungen; das ist so. Die allermeisten meistern ihr Leben, ohne sich an Kindern zu vergehen. Viel zu viele werden aber eben dennoch zu Tätern. Modellprojekte wie das Präventionsprojekt „Kein Täter werden“ der Berliner Charité sind leider die Ausnahme, und ich finde, hier braucht es einen bundesweiten Ausbau und eine öffentliche Finanzierung, weil jeder, der zum Täter wird, am Ende eben auch Opfer hat. Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen nicht zum Täter werden, damit Kinder nicht zu Opfern werden.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Bettina Margarethe Wiesmann [CDU/CSU])
Das alles – Herr Präsident, ich komme zum Schluss – ist nicht mit einer Hauruckmaßnahme zu packen. Das ist mit Geld verbunden, auch mit viel Aufwand, und mit Sicherheit ist das nicht so plakativ wie eine Strafrechtsreform, die sich auf den Titelseiten bestimmter Zeitungen gut macht. Aber ich finde, wenn uns der Schutz von Kindern und Jugendlichen wichtig ist, dann sollten wir diese Maßnahmen nicht unversucht lassen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Katja Dörner.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7452950 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 166 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde: Sexuellen Missbrauch effektiv bekämpfen |