10.09.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 173 / Zusatzpunkt 9

Helge LindhSPD - Aktuelle Stunde – Extremismus bekämpfen

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Curio war so frei, uns – wenn ich mich recht erinnere – die Kosten syrischer Gefährder und anderes aufzurechnen. Ich bin so frei, an dieser Stelle eine Rechnung in Auftrag zu geben, aus der hervorgeht, was Gefährderinnen und Gefährder der AfD in sämtlichen Parlamenten und Stadträten dieses Landes an Kosten verursachen.

(Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])

Ich bin gespannt auf das Gesamtergebnis.

Lassen Sie uns also über Freiheit und von Freiheit reden. Es gibt nicht nur die Freiheit von Unterdrückung und Gewalt, sondern es gibt eben auch die Freiheit zu etwas, zum Beispiel die Freiheit, zu demonstrieren. Ich glaube, nicht wenige, die hier, aber auch anderswo, auch in Leipzig, gewalttätig demonstriert haben, haben die damit einhergehende Verantwortung der Freiheit zu etwas nicht wirklich begriffen. Deshalb halte ich es für sinnvoll, mit den Begrifflichkeiten vorsichtig umzugehen, und rate der AfD und vielen anderen, die sich so mitfühlend über die Demonstranten hier in Berlin äußern, einen gewissen Perspektivenblick zu entwickeln.

Jüngst sprach ich mit Holger Fach – ihn kennen sicher einige –, dem ehemaligen Fußballnationalspieler. Er schilderte mir die Situation seiner Mutter. Sie ist hochbetagt, hat den Zweiten Weltkrieg erlebt und lebt jetzt isoliert in einer Alteneinrichtung. Sie hätte allen Grund, über ihre Freiheitsrechte zu sprechen; denn sie ist eine besonders Leidtragende der Maßnahmen aufgrund von Corona. Aber sie ist in voller Demut und hochdankbar dafür, in diesem Land leben zu können; denn sie weiß, was eine echte Diktatur gewesen ist und was Freiheit bedeutet. Sie findet es zutiefst zynisch, angesichts des derzeitigen Zustands die Frechheit zu besitzen, in diesem Land von einer „Coronadiktatur“ zu sprechen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

– Ja, da kann man ruhig klatschen.

Ich erinnere an Syrer und Syrerinnen, mit denen ich vor ein paar Tagen gesprochen habe, die hier Unterschlupf gefunden haben und immer wieder dafür danken, dass sie hier in Freiheit leben können; denn sie haben vorher in einem Staat gelebt – dessen Führung unter Herrn Assad die AfD ja durchaus sehr schätzt –, in dem es so etwas wie Demonstrationsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung oder Pressefreiheit nicht gab. Sie sind dankbar und stolz darauf, hier leben zu können. Sie hätten Grund, zu demonstrieren gegen das, was in ihrem Land und ihren Angehörigen passiert.

Ich erinnere in diesem Moment an jemand Drittes, der eigentlich jeden Tag Grund hätte, zu demonstrieren. Es handelt sich um eine 16-jährige Frau, die ich gestern interviewen durfte und die aufgrund dessen, dass sie Kopftuch trägt, schlimmste Diskriminierung bei der Praktikumssuche und vielem anderen erfährt und deren Leben überschattet ist von den Ereignissen des NSU und von Hanau. Sie ist stolz auf dieses Land und stolz auf diese Demokratie, und sie läuft nicht auf die Straße und behauptet, dieses Parlament sei Ausdruck von Unterdrückung, obwohl sie genug Grund hätte, sich über dieses Land aufzuregen. – Ich glaube, diese Perspektiven sind wichtig, um den Gesamtzusammenhang zu begreifen.

Ich bin auch der Meinung, dass wir sehr wohl die Pflicht haben, jede einzelne Maßnahme zur Einschränkung von Freiheits- und Bürgerrechten gut zu begründen, dass wir Fehler einsehen müssen, dass wir mehr als bisher klarstellen müssen, warum welche Entscheidungen gefällt werden, warum wir vielleicht auch Fehler gemacht haben und manchmal auch unsicher sind bei gesundheitspolitischen und sonstigen Maßnahmen. Aus der Perspektive einer selbstbewussten Demokratie bedeutet das aber auch, dass es eben nicht nur Bürgerrechte gibt, sondern auch Bürgerpflichten.

Ich finde es doch sehr erstaunlich, wie viele, die sich sonst aufregen, dass man mit Kriminellen so viel Mitgefühl hat, jetzt Tausende von Argumenten finden, warum die Personen, die hier in Berlin demonstriert haben, das Recht hätten, sich entsprechend zu äußern. Ich sage aber deutlich: Wer neben Leuten mit Reichsflaggen, neben Identitären, neben Völkischen, neben Hildmann und Co demonstriert, der betreibt Integrationspolitik für Nazis, und der macht Nazis in diesem Land hoffähig.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und der FDP)

Es gibt dafür keinerlei Rechtfertigung und auch keinerlei Entschuldigung. Es bringt überhaupt nichts, mimosenhaft Mitgefühl mit diesen Personen zu haben. Wer da läuft, weiß, was er tut und muss sich dafür verantworten.

Unser Maßstab kann nicht sein, zu sagen: Das ist nicht strafbar. Wenn wir uns immer nur an der Linie der Nichtstrafbarkeit bewegen würden, könnten wir diese Demokratie zumachen. Nein, jeder Einzelne hat eine Verantwortung, und die Debatte darüber vermisse ich. Der Skandal ist doch nicht allein, dass Hunderte oder Tausende Nazis demonstriert haben. Der Skandal ist, dass da Zehntausende mitdemonstriert haben, egal welcher weltanschaulicher Orientierung, und kein Problem damit hatten, das neben Reichsflaggen, Reichskriegsflaggen und Nazis zu tun. Das ist das Problem. Dafür brauchen wir einen Aufschrei.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Denn es bedeutet, dass sich eine krude Mischung – ich nenne es: ein toxisches Gebräu – inmitten unserer Gesellschaft entwickelt.

Die heutige Aktuelle Stunde mit dem Titel „Keine Toleranz für die Feinde der Demokratie“ müsste eigentlich „Keine Toleranz für die Mitläufer der Feinde der Demokratie“ heißen; denn sie sind das eigentliche Problem. Wir müssen uns viel mehr als bisher diesen zuwenden und deutlich machen, dass sie verantwortungslos mit ihrer Freiheit umgehen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7469012
Wahlperiode 19
Sitzung 173
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde – Extremismus bekämpfen
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