11.09.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 174 / Zusatzpunkt 24

Helge LindhSPD - Konsequenzen aus dem Brand in Moria

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „ I Ellada den einai moni”: Griechenland ist nicht allein. – Das ist keine Realität, sondern das ist eine Forderung, die ich sehr ernst meine und die von uns ausgehen muss. Dieser Satz beinhaltet jetzt all die Geflüchteten auf den Inseln und übrigens auch auf dem Festland, aber insbesondere auf Lesbos und in den anderen Lagern. Aber gemeint ist auch die Bevölkerung auf den Inseln, auf dem Festland. Das sind all die Menschen in Griechenland. All denen sind wir es schuldig, dafür zu sorgen, dass diese Lage endlich endet. Wir sind das als Deutsche in ganz besonderem Maße schuldig, nicht nur aufgrund der Belastung infolge der Finanzkrise, sondern ganz besonders auch – das sollten wir nicht vergessen – angesichts dessen, was dieses Land während des Dritten Reiches im deutschen Namen in Griechenland angerichtet hat;

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Volker Münz [AfD]: Wie lange noch?)

das gehört zu dieser Geschichte dazu.

Ich habe heute Nacht und heute Morgen in einer langen Konversation mit einer Helferin telefoniert, die vor Ort ist; eine Frau, die aus christlichen Motiven, aus Nächstenliebe unterstützt und mit griechischen Organisationen sehr kooperativ zu helfen versucht und die oft nur ihre Aufmerksamkeit und ihr Ohr anbieten kann, der sonst die Hände gebunden sind.

Angesichts all dessen sage ich nach den Bildern, die wir sehen, aber auch nach dem Ausbruch von Corona ganz persönlich – auch mit Blick auf mein eigenes Handeln –: Ich habe mich geirrt, und ich habe versagt, und ich habe mich auch schuldig gemacht. Ich sage das nicht als Anklage an die anderen; das wäre zu einfach. Wir alle sind ja bei Migrationsdebatten – auch in moralischen Kulissen – immer gut in der Rechthaberei. Wir haben unsere ideologischen Wagenburgen und haben es immer schon richtig gewusst.

Vorhin habe ich das auch so ein bisschen erlebt: Die Grünen haben dies und jenes falsch gemacht; die FDP hat es besser gewusst. – Auch wir sind dagegen nicht immun. Ich glaube aber, das bringt uns in dieser Situation nicht weiter. Das Vetorecht auf Basis der Moralität und der Realität gilt jetzt, und ihm haben wir Folge zu leisten.

Deshalb müssen wir uns, glaube ich, klarmachen, dass einzelne Solidaritätslichter, die wir aufstellen, was ja nicht falsch ist, auch zu Nebelkerzen werden können. Natürlich ist es sinnvoll, wenn wir jetzt das THW runterschicken und wenn wir dort Hilfseinrichtungen aufbauen. Und natürlich ist es grundsätzlich eine gute Idee, wenn wir in Zukunft auf Lesbos ein vorbildliches Lager mit einer begrenzten Zahl von Personen und mit besten hygienischen Einrichtungen haben.

Aber – diese Fragen müssen wir beantworten –: Werden die Bedingungen dort anders sein? Wie viele Menschen leben dort? Und wie schnell funktionieren Verfahren? Ich befürchte, bis ein solches Lager dort errichtet ist und die Verfahren laufen, sind Monate oder sogar Jahre vergangen. Wir können es uns zu diesem Zeitpunkt nicht erlauben, weiter Monate oder Jahre innezuhalten und abzuwarten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Frau Motschmann zitierte gerade Schallenberg, den Europaminister der türkis-grünen oder auch schwarz-grünen Regierung in Österreich, der ein erschreckendes Beispiel für die Politik ist, der wir nicht folgen dürfen: für die Logik der Abschreckung. Er beruft sich darauf, man brauche Deemotionalisierung und Rationalisierung. Einerseits ist das angesichts derjenigen zynisch, die an den Straßen liegen oder sitzen, kein Essen haben und deren Augen wie ausgehöhlt wirken: die Schwangeren, die Alten, die Verzweifelten.

Andererseits entspricht das aber auch nicht Schallenbergs eigenem Prinzip. Denn rationalisieren heißt doch in dieser Logik nicht – da widerspreche ich Ihnen, Herr Frei –, zu denken: Wir brauchen jetzt erst ein GEAS, ein funktionierendes System, und dann kann Nothilfe kommen.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Das habe ich nicht gesagt!)

Wir brauchen erst die Nothilfe und diese für Tausende, die zu evakuieren sind; denn niemals – niemals! – wird ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

mit Aufnahmezentren funktionieren, wenn wir nicht in diesem Fall, im Fall von Moria, beweisen, dass Europa zu seinen Werten steht und dass es in der Lage ist, Humanität und Kontrolle miteinander zu verbinden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich sage: Nicht Moralität, aber der Anspruch, Kontrolle walten zu lassen, zeigt, dass Kontrollverlust, dass Rechtlosigkeit, dass Pushbacks, dass menschenverachtende Verhältnisse in Moria nicht diesem Europa entsprechen und dass wir wegen Kontrolle und wegen Kontrollgewinn und wegen Steuerung von Migration und nicht allein aus moralischen Gründen verpflichtet sind, Tausenden von Menschen eine Perspektive zu bieten und sie zu evakuieren, entweder vom Festland oder am besten direkt von den Inseln.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Michael Kuffer das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7469401
Wahlperiode 19
Sitzung 174
Tagesordnungspunkt Konsequenzen aus dem Brand in Moria
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