Barbara HendricksSPD - Aktuelle Stunde - Demokratie und nationale Souveränität in Belarus
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Proteste in Belarus gegen die offensichtlich gefälschten Präsidentschaftswahlen dauern nun bereits mehr als fünf Wochen an. Erschüttert haben uns alle sicherlich die Berichte, wonach Vertreterinnen und Vertreter des Koordinierungsrates wie Marija Kolesnikowa von Sicherheitskräften verschleppt oder verhaftet wurden. Andere, wie Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja, haben das Land verlassen müssen oder wurden herausgedrängt. Friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten werden weiterhin inhaftiert und auch gefoltert – ebenso Oppositionsvertreter –, und das selbstverständlich ohne jede rechtliche Grundlage.
Ich möchte betonen, dass es vor allem mutige und unermüdliche Frauen sind, die die Opposition organisieren und die Proteste initiieren und tragen.
Es ist unübersehbar: Lukaschenko hat das Gebot der Stunde auch Wochen nach den Wahlen nicht verstanden. Anstatt in einen Dialog mit dem belarussischen Volk einzutreten, verstärkt er die Repression und bringt damit weitere Teile der Bevölkerung zu Recht gegen sich auf.
In Reaktion auf die offensichtliche Wahlfälschung und die massive Gewaltanwendung der belarussischen Sicherheitskräfte arbeitet das Auswärtige Amt innerhalb der Europäischen Union derzeit mit Hochdruck daran, die belarussische Zivilgesellschaft zu unterstützen und ein wirksames Sanktionspaket gegen die Verantwortlichen zu etablieren. Es ist unerlässlich, die Sichtweisen führender Vertreterinnen und Vertreter der Protestbewegung und insbesondere des Koordinierungsrates hierbei zu berücksichtigen. Jedenfalls muss jeder Anschein vermieden werden, es könne um geopolitische Interessen etwa Deutschlands oder der Europäischen Union gehen.
Klar ist – leider ist es so –: Ohne Dialog mit Moskau ist in Belarus keine Veränderung möglich. Wobei derzeit noch völlig unklar ist, was die russische Agenda für die Zukunft von Belarus ist. Belarus ist ja, wie wir wissen, mit Russland seit 1996 in einem Unionsstaat verbunden. Moskau sieht sich im Systemwettbewerb mit dem Westen und reklamiert einen exklusiven Einfluss auf Belarus. Dabei stellt sich immer auch die Frage, ob es der russischen Seite um diesen Einfluss allein geht oder vielleicht doch um die Furcht, die Menschen in Russland könnten sich ein Vorbild an der belarussischen Gesellschaft nehmen.
Dass die Wahlen problematisch für Lukaschenko werden würden, war auch schon im Vorfeld längst kein Geheimnis. Der seit 26 Jahren amtierende Präsident hat im Wahlkampf auf die Mobilisierung antirussischer Ressentiments gesetzt und breitschultrig den Schutz der Souveränität von Belarus auch im Fahrwasser europäischer Wirtschaftssanktionen gegen Russland betont, was die Gemengelage durchaus unübersichtlich macht. Die entscheidende Frage könnte aus russischer Sicht nun lauten: Wie kann man verhindern, dass solche Kräfte an die Macht kommen, deren Ziel es ist, dass Belarus sich vollkommen von Russland abwendet?
In Belarus gibt es keine nennenswerte antirussische Stimmung und in Russland keine antibelarussische. Die Protestbewegung ist keinesfalls antirussisch eingestellt. Es geht der belarussischen Gesellschaft um die Wahrung der eigenen staatlichen Souveränität und um echte Demokratie, nicht um eine stärkere Hinwendung zum westlichen Europa.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe das als Chance für einen multilateralen Dialog. Genau hier kann kluge europäische Diplomatie ansetzen, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Russland kann kein eigentliches Interesse an einer militärischen Intervention haben und könnte sein politisches Kapital im Verhältnis zu Belarus durchaus sinnvoll einsetzen.
Deutschland und die Europäische Union haben sich bislang klug verhalten. Es muss zunächst ganz konkret darum gehen, denjenigen Unterstützung und Solidarität zu gewähren, die sich unter großer Gefahr für Demokratie und freie und faire Wahlen einsetzen, ohne sich dabei den Vorwurf der Einmischung in innere Angelegenheiten einzuhandeln.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Es würde der Opposition wahrlich nicht helfen, wenn der Eindruck entstünde, die Proteste seien von außen provoziert und gelenkt.
Ich bedaure es daher sehr, dass die geplante bilaterale Abstimmung zwischen Außenminister Heiko Maas und dem russischen Außenminister Sergej Lawrow nicht zustande gekommen ist. Nur der friedliche Dialog kann den Übergang schaffen und den Weg zu Neuwahlen und einem daran anschließenden Verfassungsprozess ebnen. Mit Diplomatie und wirkungsvollen Sanktionen gegen amtierende Funktionsträger können Deutschland und Europa Belarus dabei helfen, in eine selbstbestimmte Zukunft zu gehen – mit einer demokratisch legitimierten Führung.
Unter diesen Voraussetzungen kann ein wirtschaftlicher Umbau eines Landes gelingen, welches sich in starker ökonomischer Abhängigkeit Russlands befindet. Perspektivisch kann so auch die wirtschaftliche und kulturelle Partnerschaft mit der Europäischen Union ausgebaut werden. Dabei ist völlig eindeutig: Es geht nicht um eine exklusive Partnerschaft.
In den nächsten Wochen wird sich zeigen –
Kollegin Hendricks, achten Sie bitte auf die Zeit.
– ja –, wie es in Belarus künftig weitergehen wird. Schon jetzt gebührt der belarussischen Bevölkerung, insbesondere den mutigen Frauen, unser Respekt für ihre Entschlossenheit und ihre Hartnäckigkeit.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das Wort hat Dr. Anton Friesen für die AfD-Fraktion.
(Beifall bei der AfD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7470389 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 175 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde - Demokratie und nationale Souveränität in Belarus |