17.09.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 176 / Tagesordnungspunkt 10, 7q,r, ZP 11-16

Sascha RaabeSPD - Entwicklung und internationale Zusammenarbeit

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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, womit ich gestraft bin. Fast in jeder Debatte muss ich nach dem Herrn Frohnmaier reden. Herr Frohnmaier, das Thema ist wirklich einfach zu ernst und zu groß, als dass ich mich jetzt hier mit Ihrem kleinen nationalistischen Dünnpfiff abgebe, sorry.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich werde zum Thema kommen: Wir haben eine Woche hier angesetzt, in der wir über die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung reden. Ich sage ganz bewusst nicht: eine „Nachhaltigkeitswoche“, in der es um Klima und Umwelt geht, sondern es gibt 17 Ziele der Vereinten Nationen, die alle zusammengehören und alle wichtig sind. Die ersten beiden besagen nicht umsonst, Hunger und Armut bis 2030 zu überwinden. Das sind die ersten beiden Ziele.

Dazu – Herr Kollege Klein hat es angesprochen – war am Mittwoch der Direktor des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen David Beasley im Ausschuss. Er hat uns ganz eindringlich und drastisch geschildert, wie sich diese Zahlen entwickelt haben und wie weit wir sind, um diese Ziele zu erreichen. Ich sage: Bereits vor der Coronapandemie sah das nicht gut aus. Ich erinnere noch mal: 2015 hat die Weltgemeinschaft gesagt, innerhalb von 15 Jahren will sie Hunger und Armut überwinden. Wir haben es geschafft, von 2000 bis 2015 den Anteil der Hungernden an der Weltbevölkerung zu halbieren. Aber fast 800 Millionen Menschen sind sozusagen übrig geblieben, und das sind nicht wenig. Wir hatten schon 2018 leider wieder einen leichten Anstieg auf über 821 Millionen Menschen, die hungern. Durch die Coronapandemie kann die Zahl jetzt auf über 1 Milliarde ansteigen.

Das muss uns hier in diesem Hohen Haus ein Warnsignal sein. Von dieser Woche, von dieser Debatte muss ein Mahnruf ausgehen. Wir müssen zeigen, wie die Entwicklung bei den beiden wichtigsten bzw. ersten Zielen verläuft. Aus menschlicher Sicht sind es die wichtigsten Ziele; denn wenn du verhungerst, nutzt dir alles andere auch nichts. Auch Digitalisierung und Bildung nutzen dir nichts, wenn du verhungerst.

Natürlich ist es wichtig, dass wir auch noch mal mit finanziellen Mitteln viel helfen. Ich bin auch stolz und froh, dass es uns gelungen ist – die Kollegen des Hauses und der Entwicklungsminister haben sich eingesetzt, aber auch unser Finanzminister Olaf Scholz –, dass wir in dieser Legislaturperiode im Entwicklungshaushalt so hohe Aufwüchse pro Jahr bei den Mitteln für Entwicklungszusammenarbeit hatten wie noch nie. Ich bin seit 2002 dabei. Seither gab es noch nie jedes Jahr mindestens 1 Milliarde Euro, dieses Jahr mit den Coronasondermitteln sogar über 2 Milliarden Euro. Insgesamt 3,55 Milliarden Euro zusätzlich in 2020 und 2021 für die EZ, humanitäre Hilfe, als Sondercoronaprogramm.

Aber: Geld alleine wird Menschen auch nicht aus Hunger und Armut führen können. Es ist wichtig, jetzt zu helfen – klar. Wenn ein Haus brennt, kann man nicht sagen: Jetzt warte ich erst einmal, bis ich eine schicke Feuerwehr habe. – Ich muss mit den Mitteln löschen, die ich zur Verfügung habe. Deswegen ist es auch wichtig, über soziale Sicherungssysteme und alle Hilfsmaßnahmen hungernden Menschen direkt zu helfen.

Natürlich geht es langfristig darum, Menschen zu empowern, wie man so schön sagt, in die Lage zu versetzen, dass sie selbstbestimmt von ihrer eigenen Hände Arbeit würdig leben können. Dazu gehört auch fairer Handel. Dazu gehört menschenwürdige Arbeit. Hier brauchen wir faire Handelsverträge. Wir brauchen auch Unternehmen, die überall auf der Welt Menschenrechte umsetzen, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])

Ich bin sehr stolz und froh, dass es in der Bevölkerung eine große Zustimmung gibt. In meinem Wahlkreis gibt es viele, die in Eine-Welt-Läden arbeiten, die sich ehrenamtlich für eine bessere Welt engagieren. Wir haben bereits mit Gelnhausen, Erlensee, Rodenbach drei Kommunen, die sich engagieren. Jetzt kommt die größte Stadt Hanau dazu. Die wird im November Fair-Trade-Town. Herzlichen Glückwunsch dazu.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])

– Ja, da kann man einmal klatschen. Danke.

Über drei Viertel der Bevölkerung wünscht sich ein scharfes Lieferkettengesetz mit entsprechenden Haftungsmöglichkeiten. Dabei wird es in diesem Haus schon einmal kontrovers, bei allen Übereinstimmungen – auch zwischen CDU/CSU und SPD –, die wir im Entwicklungsausschuss oft haben. Herr Entwicklungsminister, ich weiß, Sie sind auf meiner Seite. Hubertus Heil und Sie kämpfen für ein Lieferkettengesetz. Aber Herr Altmaier ist der Wirtschaftsminister, der ein solches Gesetz derzeit blockiert, der es verhindern möchte, der es verwässern möchte. An dieser Stelle müssen wir sagen: Menschenrechte sind konkret, sie sind unteilbar, sie müssen umgesetzt werden. Ich finde, Herr Wirtschaftsminister Altmaier muss endlich aufhören, dieses Gesetz zu blockieren. Wir brauchen ein Lieferkettengesetz jetzt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Gut gemeint ist aber nicht gut gemacht!)

Menschenrechte sind konkret, nicht abstrakt. Wenn man, wie ich, in Ghana, im Kongo, in Madagaskar war und sieht, wie Kinder dort in Bergwerksminen schuften müssen, an Eimern in irgendwelche Löcher heruntergelassen werden und nach Stunden aus dem Dunkeln wieder herauskommen, weil sie Diamanten klopfen müssen, wie Kinder auf Kakaoplantagen mit Macheten arbeiten müssen, Lasten auf dem Kopf tragen und zusammenbrechen; wenn man mit Überlebenden von Rana Plaza gesprochen hat – das habe ich in Bangladesch getan –, die verkrüppelt sind, weil dort die Textilfabrik zusammengestürzt ist, dann muss man sagen: Es kann nicht sein, das nur der Freiwilligkeit zu überlassen. Da müssen gesetzlich verpflichtende Regelungen her, so wie wir das bei den Konfliktmineralien geschafft haben. Da gab es am Anfang von einigen Wirtschaftsverbänden die gleichen Gegenargumente. Später waren auch die Edelmetaller an unserer Seite und bereit, das umzusetzen. Viele Unternehmer haben erkannt, dass ein fairer Wettbewerb auch ein gleicher Wettbewerb ist und dass diejenigen, die die Menschenrechte einhalten, keinen Wettbewerbsnachteil, sondern einen Wettbewerbsvorteil haben. Ausbeutung darf kein Wettbewerbsvorteil sein. Deshalb brauchen wir ein verbindliches scharfes Lieferkettengesetz, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Dr. Wolfgang Stefinger [CDU/CSU])

Das Gleiche gilt für die Handelsabkommen. In den Handelsabkommen der EU – das passt super zu dem Thema dieser Woche – gibt es die sogenannten Nachhaltigkeitskapitel. Jetzt sagen alle: Wir sind für Nachhaltigkeit. – Aber dann darf es doch nicht sein, dass diese Handelsverträge zurzeit immer so angelegt sind, dass in allen Kapiteln der Handelsverträge steht: Bei Verstößen gibt es Sanktionen. – Aber bei Verstößen gegen Menschenrechte, gegen Arbeitnehmerrechte, gegen Umweltbestimmungen gibt es lediglich ein Dialogverfahren. Da wird miteinander geredet, und am Ende kann eine Rüge erteilt werden. Das kann es doch nicht sein.

(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)

Wenn wir Nachhaltigkeit ernst meinen, müssen wir auch die Nachhaltigkeitskapitel so gestalten, dass auch sanktioniert werden kann, wenn eine Seite sich nicht daran hält.

Das gilt jetzt insbesondere für das aktuell anstehende Abkommen mit den Mercosur-Staaten. Ich habe mich gefreut, nachdem die Kanzlerin immer gesagt hat, das Mercosur-Abkommen soll in der jetzigen Form schnellstmöglich unterschrieben werden, dass sie nach dem Treffen mit Klimaschützern vor ein paar Wochen öffentlich einen 180-Grad-Schwenk gemacht hat. Dazu hat sie allgemein ein paar kritische Worte gesagt, und jetzt wird sie dafür gelobt, dass sie noch einmal etwas verbessern will. Ich finde das inhaltlich richtig; nicht dass Sie mich falsch verstehen. Aber gleichzeitig weiß ich doch, dass vom Wirtschaftsministerium jetzt wieder gesagt wird: Na ja, damit meinen wir aber keine Nachverhandlungen, damit meinen wir vielleicht irgendeine Zusatzerklärung. – Das muss natürlich rechtssicher sein. Es muss ein rechtssicherer Vertrag sein, so wie es damals Sigmar Gabriel bei CETA in Bezug auf die Schiedsgerichte nachverhandelt hat. Und das hängt auch nicht nur von der Person Bolsonaro ab. Wenn Gewerkschaftsrechte missachtet werden, egal welcher Präsident dran ist, oder der Regenwald abgeholzt wird, dann muss das auch rechtssicher sanktioniert werden können, damit so etwas nicht passiert. Es geht hier um die Prävention. Übrigens bindet das auch die Europäische Union. Auch als Mitgliedstaat der Union, beispielsweise wenn irgendein ungarischer Präsident meint, die Gewerkschaften abschaffen zu müssen, muss man sich dann daran halten.

Aber das brauchen wir. Wir brauchen in einem Handelsabkommen ein Nachhaltigkeitskapitel, in dem die Menschenrechte vor den Wirtschaftsgewinnen oder an erster Stelle stehen, dann haben beide Seiten etwas davon: fairer und freier Handel; mit großer Betonung auf „fair“. Das müssen wir erreichen. Dann schaffen wir es vielleicht auch, den Zielen 1 und 2 – Hunger und Armut bis 2030 zu überwinden – wenigstens ein ganzes Stück näher zu kommen. Lassen Sie uns dafür gemeinsam streiten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist der Kollege Dr. Christoph Hoffmann.

(Beifall bei der FDP)

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Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
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Wahlperiode 19
Sitzung 176
Tagesordnungspunkt Entwicklung und internationale Zusammenarbeit
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