Michael RothSPD - Vereinbarte Debatte "30 Jahre Deutsche Einheit"
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie alle kennen diesen Song: „Hinterm Horizont geht’s weiter“.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Udo Lindenberg!)
Für mich galt das bis kurz vor meinem Abi nicht. Ich bin im sogenannten Zonenrandgebiet groß geworden, 1 Kilometer von der Grenze zur DDR entfernt. Wenn ich aus meinem Schlafzimmerfenster geschaut habe, habe ich auf Stacheldraht, auf Zaun, auf Selbstschussanlagen gesehen. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Freude es auch bei uns im Westen ausgelöst hat, als diese Mauer, als diese Grenze fiel.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es war eine wunderbare Zeit, als wir uns den himmelblauen Opel Ascona von den Eltern meiner Freundin Manuela ausgeliehen haben, um dann Thüringen zu erkunden. Wir sind im Osten hin und her gefahren. Man kann es sich gar nicht vorstellen: 30 Kilometer entfernt war die Wartburg, war Eisenach; aber ich war dort bis zu meinem 19. Lebensjahr niemals.
(Zuruf von der AfD: Warum nicht? Ihr hättet doch gedurft!)
Das Ganze ist ein Schatz, und es ist eben nicht nur ein Schatz für die Menschen in Ostdeutschland, sondern es ist auch ein Schatz für uns. Ich erlebe selber in meiner Heimat Heringen in Nordosthessen, was uns in diesen 30 Jahren gelungen ist, aber auch, was uns noch nicht gelungen ist.
Viele junge Menschen bei mir zu Hause gehen inzwischen in Thüringen zur Schule. Sie besuchen großartige Universitäten in Thüringen, zum Beispiel in Jena oder in Erfurt. Ich selber bin viel öfter in Erfurt, der thüringischen Landeshauptstadt – nicht nur zum Einkaufen –, als ich in meiner eigenen Landeshauptstadt, in Wiesbaden, bin.
(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Gute Idee! Da ist ja auch die bessere Regierung!)
Unsere Region, übergreifend in West und Ost, ist vom Kalibergbau geprägt. Wir haben bei mir zu Hause ein Kaliwerk, das hat drei Standorte: eines in Thüringen, zwei in Hessen. 40 Prozent der Beschäftigten kommen aus Thüringen. Im Alltag der Kumpels unter Tage und über Tage spielt die Herkunft in der Regel keine große Rolle mehr.
Ich bin denjenigen sehr, sehr dankbar, die noch mal daran erinnert haben, dass es ohne das vereinte Europa und ohne die Einbettung der alten Bundesrepublik in das vereinte Europa diese deutsche Einheit niemals gegeben hätte. Das muss aber mehr sein als ein Lippenbekenntnis in Sonntagsreden oder auch in Bundestagsdebatten; denn den Wert Europas bemessen wir allzu oft noch zu sehr in Euro und in Cent. Aber Frieden, Stabilität, Solidarität, das Miteinander, dass wir ohne Angst verschieden sein können in Europa, das kann man nicht in Euro und Cent bemessen. Deswegen: Lassen Sie uns weniger über das reden, was wir Europa geben. Lassen Sie uns viel öfter darüber reden, was Europa uns gibt und schenkt.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Daraus erwächst natürlich auch die Verpflichtung, dass wir uns besonders anstrengen. Wer aber für sich in Anspruch nimmt, ein Patriot zu sein, der kann nicht gleichzeitig auf Abschottung, auf Nationalismus, auf Rassismus und auf Intoleranz setzen, wie Sie das immer wieder tun. Wer das tut, ist kein deutscher Patriot, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie Hetzer!)
Herr Kollege Baumann, für den Zwischenruf „Sie Hetzer!“ rufe ich Sie zur Ordnung.
(Zuruf von der AfD: Also, hier können Leute „Nazi“ sagen!)
– Einen Moment. Vorsicht! Die Ordnungsrufe des Präsidenten werden nicht kommentiert.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an die AfD gewandt: Herr Hilse, das gilt auch für Sie! – Gegenruf des Abg. Tino Chrupalla [AfD]: Aber auch für Sie! – Weitere Zurufe von der AfD)
Dafür rufe ich Sie zur Ordnung, Herr Kollege.
(Stephan Brandner [AfD]: Unglaublich, was hier abgeht! Unglaublich! – Zuruf: Ja, in der Tat!)
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, „ein Volk“ heißt immer auch „ein Europa“. Das heißt Zusammenhalt, und das heißt immer auch die Bereitschaft, sich in den jeweils anderen hineinzuversetzen. Das ist doch die Erfahrung, teilweise auch die schmerzhafte Erfahrung, die wir in den vergangenen 30 Jahren gemacht haben.
Was ich mir als Westdeutscher oder auch als Grenzgänger immer wieder wünsche, ist, dass wir es in noch viel mehr gesellschaftlichen Bereichen – in der Wirtschaft, im Medienbereich, in der Kultur – schaffen, auch ostdeutsche Biografien hervorzustellen. Das macht doch den Reichtum unseres Landes aus.
Einheit heißt nicht Einfalt, Einheit heißt Vielfalt. Und gerade diese Vielfalt, die wir hier leben und die wir auch vorleben, ist, glaube ich, das größte Geschenk, das wir durch die deutsche Einheit bekommen haben. Wenn es uns dann noch gelingt, dies mit einem weltoffenen Ansatz zu verknüpfen, dann wird auch der Auftrag, der sich aus dem Grundgesetz ergibt, nämlich im geeinten Deutschland für ein geeintes Europa einzutreten, noch besser erfüllt. Das ist nämlich die Erwartungshaltung, die viele, viele in Europa und in der Welt uns gegenüber hegen. Es wäre doch ein schönes Geschenk, wenn wir das immer wieder – auch in unserer politischen Alltagsarbeit – ernst nehmen würden.
Vielen herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Matthias Höhn, Die Linke, ist der nächste Redner.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7474274 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 181 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte "30 Jahre Deutsche Einheit" |