09.10.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 184 / Zusatzpunkt 10

Mahmut ÖzdemirSPD - Bundeswahlgesetz (Wahlversammlungen)

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Entscheidungen im persönlichen Bereich sachlich zu treffen, ist schon schwierig. Aber sind eine Vielzahl von Personen aufgerufen, wie hier im Deutschen Bundestag oder in Parteien, gemeinsam zu beraten und zu entscheiden, dann müssen geeignete Verfahren gefunden werden, die das Mitwirken aller sichern. Herr Haug, bei allem Diskurs, ich glaube auch, dass es nicht stets darauf ankommt, überhaupt diese Möglichkeit unter Anwesenden zu haben oder einen Kontrahierungszwang, sondern es kommt auch ein Stück weit darauf an, dass die Menschen, die aufgerufen sind, sich an Versammlungen zu beteiligen, sich auch wohlfühlen, wenn sie dahin kommen. Wenn ich mir angucke, dass diverse Parteitage jetzt gerade abgesagt worden sind, weil Mitglieder gesagt haben: „Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, bei diesem Infektionsgeschehen mit mehreren Hundert Leuten trotz Lüftung, trotz allem in einem Raum anwesend zu sein“, dann muss man auch auf diese Parteimitglieder ein Stück weit Rücksicht nehmen, wie ich finde.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sogar als Bundestag haben wir althergebrachte Grundsätze infrage gestellt bzw. haben sie verändert und angepasst, etwa unsere Abstimmungen, beispielsweise namentliche Abstimmungen, und haben die Entscheidung darüber, dass eine Entscheidung überhaupt getroffen wird, auch ein Stück weit über das Verfahren gestellt.

Seit Sommer werden in den Parteien Kandidaten zur Bundestagswahl im September gekürt. Ortsverbände haben teilweise Delegierte gewählt, oder Mitgliederversammlungen wurden abgehalten, oder Vertreterversammlungen werden gerade anberaumt. Um Abstände einzuhalten und um das „Atmen“ mehrerer Hundert Leute in einem Saal zu verhindern, wurden kreative Lösungen ersonnen, zum Beispiel Stadien zu nutzen, Zelte; Freiluftveranstaltungen wurden durchgeführt. Aber so langsam kommt der Winter, und, ich glaube, keiner von uns möchte in einem Stadion eine Versammlung oder eine Vertreterversammlung abhalten. Auch gerade deshalb ist dieser Notfallmechanismus im Gesetz richtig und notwendig.

Bei einer berechenbaren Anzahl von Personen geht das auch noch. Aber es gibt ja auch Parteien, denen wir ermöglichen müssen, dass sie Mitgliederversammlungen anberaumen. Da kommt es zu einer nicht vorhersagbaren Anzahl von Menschen, die sich in einer Versammlung zusammenfinden, und gerade für diesen Fall müssen wir die Vorsorge treffen.

Wir folgen hier wissenschaftlichen Erkenntnissen. Bei gewissen Infektionszahlen oder Inzidenzwerten bzw. einem gewissen Infektionsgeschehen gibt es auch die Möglichkeit, dass wir solche Ansammlungen zumindest infrage stellen bzw. dass die Kommunen und die Länder eigene Regeln haben. Gerade deshalb gilt auch hier, dass wir eine bundeseinheitliche Regelung gerade für unsere demokratische Geschäftsgrundlage zu schaffen haben.

Gleichwohl müssen wir es den Parteien ermöglichen, sich angemessen auf die Bundestagswahl vorzubereiten. Ich denke, eines ist in diesem Haus unumstritten und müsste unumstritten sein: Die Bundestagswahl im September 2021 wird stattfinden. Sie muss stattfinden. Herr Kollege Frieser hat es gerade angedeutet: Wir alle haben nur eine Bevollmächtigung, eine Legitimation auf Zeit. Gerade das höchste Gut der Demokratie, diese Legitimation auf Zeit, muss auch in Ausnahmesituationen unumstößlich sein.

Wenn Parteien keine Versammlungen durchführen können, dann brauchen wir schnelle und sichere Lösungen. Am Ende geht es darum, allen Parteien die Teilnahme an der Bundestagswahl chancengleich zu ermöglichen und das Vertrauen in der Bevölkerung zu schaffen, dass unsere Bevollmächtigung auf Zeit stets erneuert wird, auch in den Parteien, auch bei den Kandidatinnen und Kandidaten, die sich gegenüber ihrer Partei zu rechtfertigen haben. Diese Zeit darf nicht überschritten werden.

Wie lösen wir das Ganze? Wir lösen das durch ein schnelles, technisches, detailreiches Eingreifen, durch eine Verordnungsermächtigung im Bundeswahlgesetz. Die gesamte demokratische Absicherung obliegt hier dem Deutschen Bundestag. Wir ordnen die Parteien mit dem Maßnahmengesetz zur Coronapandemie auch in ein Regelungssystem gegenüber Vereinen, Gesellschaften, Genossenschaften ein, sodass auch hier Mitgliedsrechte teilweise digital, aber auch unter Abwesenden wahrgenommen werden können.

Parteien wird in solchen Ausnahmesituationen schließlich eben erlaubt, vom Regelfall – der Regelfall ist eben, unter körperlich Anwesenden zu streiten, zu beraten, zu entscheiden – abzuweichen, und zwar auch dann, wenn das eigene Satzungsrecht entgegensteht; denn es wäre widersinnig, wenn wir ein Gesetz schaffen und eine Partei sich erst zusammenfinden müsste, ihre Satzung zu ändern, um dann das zu ermöglichen, was wir ins Gesetz schreiben. Gerade das würde einem Notfallmechanismus auch widersprechen, und ohne eine solche Regelung gäbe es nicht rechtzeitig die Möglichkeit, dass Parteien Bewerberinnen und Bewerber zur Bundestagswahl aufstellen können.

Im Einzelnen. Der Bundestag wird, muss und nur der Bundestag darf eine solche Lage höherer Gewalt feststellen. Das ist die erste Hürde. Erst dann wird nach der Verordnungsermächtigung eine Verordnung mit Detailregelungen vom Bundesinnenministerium ins Werk gesetzt.

(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also doch eine Ermächtigung!)

Schließlich sind wir hier der Souverän. Ohne unsere Zustimmung wird eine solche Verordnung am Ende des Tages auch nicht in Kraft gesetzt bzw. kann eine solche Verordnung nicht genutzt werden. Wir sind hier die letzte Instanz, die sich die Verordnung anguckt und fragt: Ist sie in Ordnung, oder ist sie nicht in Ordnung? Dann machen wir das Häkchen dran oder eben auch nicht.

(Beifall bei der SPD)

Ich denke, mehr Sicherheitsvorkehrungen demokratischer Natur einschließlich einer zusätzlichen Befristung gehen in dieser Hinsicht nicht. Das ist schon das höchste Maß.

Gerade wurde hier kritisiert, dass das Gesetz durch einen Änderungsantrag von uns als Regierungsfraktionen verändert worden ist. Ich frage mich: Wieso sollen wir ein Gesetz nicht verbessern? Das ist hier unser Auftrag. Das ist auch der Grund, warum wir hier als Parlamentarierinnen und Parlamentarier zusammenkommen. Ich wundere mich über das Verständnis von Parlamentarismus von einigen Fraktionen hier; aber überraschen tut es mich an dieser Stelle nicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Schlussabstimmungen und Entscheidungen bzw. Beschlussfassungen über die Satzungen sind hiervon ausgenommen. Dafür gibt es spezielle Regelungen, die den Wahlgrundsätzen, die wir aus Artikel 38 Grundgesetz kennen, analog genügen müssen.

Wir ermöglichen mit diesem Gesetz – von Teilversammlungen an verschiedenen Orten über Schlussabstimmungen per Brief- und Urnenwahl bis hin zur Anwendung von elektronischen Instrumenten und elektronischer Kommunikation –, Entscheidungen zu treffen – ein Notfallmechanismus, der richtig und wichtig ist.

Kurzum: Das ist eine Notfallregelung, mit der wir unsere Parteiendemokratie befähigen, in jeder Lage höherer Gewalt, bei einer pandemischen Auswirkung chancengleich Bewerberinnen und Bewerber in eine Wahlkampfauseinandersetzung zu schicken. Das ist gut. Ich hoffe inständig, dass trotz der nervenaufreibenden Verhandlungen, der langwierigen Diskussionen, der vielen Gutachten und Anhörungen von dieser Regelung nicht Gebrauch gemacht werden muss. Das ist die Hoffnung, die ich damit verbinde, wenn ich Sie um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf bitte.

Ich danke dem Präsidenten für die acht Sekunden on top.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nächster Redner ist Kollege Dr. Jürgen Martens, FDP.

(Beifall bei der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7476107
Wahlperiode 19
Sitzung 184
Tagesordnungspunkt Bundeswahlgesetz (Wahlversammlungen)
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