09.10.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 184 / Zusatzpunkt 11

Thomas HackerFDP - Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir stehen am Ende des grausamsten Jahrhunderts in der Geschichte Europas – eine solche Vergangenheit vergeht nicht. Sie ist gegenwärtig in allen unseren Ländern … Wir können aus der Vergangenheit lernen, auch, dass der Gang der Geschichte offen ist, dass er von Menschen gestaltet wird. Der Glaube an historische Zwangsläufigkeit ist ein gefährlicher Irrtum. Er verführt zur Passivität.

Mit diesen Worten erinnerte uns der Historiker Fritz Stern im Jahr 1999 an das Wesen der Erinnerungskultur. Heute, 20 Jahre später, 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und im 30. Jahr der deutschen Einheit, mahnen uns diese Worte und sind aktueller denn je.

Erinnern kennt keinen Schlussstrich. Erinnern ist Teil unserer Geschichte. Erinnern ist Teil unseres Schicksals. Gerade deshalb ist dieses Erinnern ein so lebendiger wie schwieriger Prozess. Wenn wir heute die Frage stellen: „Für wen baut die deutsche Demokratie 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Gedenkorte?“, wie es der „Tagesspiegel“ vor wenigen Monaten tat, dann gibt es meiner Meinung nach darauf eine klare Antwort: Für unsere Zukunft, für die Zukunft Europas!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Erinnern geht immer weit über Orte des Gedenkens und die Vermittlung historischer Fakten hinaus. Es darf niemals nur Selbstzweck sein nach dem Motto „Seht her, was wir machen!“; denn dann wäre unsere Kultur des Erinnerns nur ein großer Ablasshandel; das darf nicht sein.

(Beifall bei der FDP)

Erinnerung ist Verpflichtung wie Verantwortung gerade in Zeiten, die nur noch den Monolog der Schwerhörigen zu kennen scheinen. Unser kulturelles Gedächtnis bezieht sein Wissen immer auf eine gegenwärtige Situation, wie es der Kulturwissenschaftler Jan Assmann so treffend beschreibt. Wenn wir heute über einen zukünftigen Ort des Erinnerns an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges sprechen, dann müssen wir uns davon leiten lassen.

Das Erinnern an die Verbrechen des Nationalsozialismus ist immer auch ein sehr persönliches Erinnern. Jedes einzelne Opfer, jedes Kind, jede Frau, jeder Mann, hat einen festen Platz in der Erinnerung ihrer und seiner Familie, Freunde und Mitmenschen. Jedes einzelne Leid muss nachempfunden werden, jedes verlorene Menschenleben muss erinnert werden. In unserer Erinnerungskultur tendieren wir dazu, Opfer in Gruppen zusammenzufassen, nach Religion, nach sexueller Orientierung, nach Herkunft, nach Nationalität, nach politischer Überzeugung. Ja, die Nazis fanden viele Gründe, andere Menschen einzuteilen, Begründungen, warum die, die anders sind, verjagt, verfolgt, getötet und vernichtet werden mussten. Ist es überhaupt möglich, aller zu gedenken und dabei keinen einzelnen Menschen, kein einzelnes Schicksal zu vergessen? Jede Nation, jede Opfergruppe hat das Unrecht der Nazis anders erfahren. Jede Nation arbeitet ihre eigene Verantwortung und Vergangenheit anders auf.

Ich habe zu Beginn meiner Rede schon darauf hingewiesen: Der Umgang mit unserer Erinnerung ist ein lebendiger Prozess. Während wir in Deutschland, zumindest in einem Teil davon, seit 75 Jahren an der Aufarbeitung dieses unvergleichlichen Verbrechens arbeiten konnten, ist unseren Nachbarn in Mittel- und Osteuropa erst seit 30 Jahren eine ideologiefreie Aufarbeitung möglich. Jedes einzelne Land, jede Region geht dabei ihren eigenen Weg. Verwundert es uns denn wirklich, dass die Ukraine für sich das Recht auf ein eigenes Erinnern einfordert und nicht mit Russland als Teil der ehemaligen Sowjetunion gleichgesetzt werden will, wenn Russland heute Teile der Ukraine besetzt hält und eine Konfliktpartei im Osten des Landes ist? Und ist es nicht an der Zeit, für unser besonderes Verhältnis zu unserem Nachbarn Polen den Ort zu schaffen, um an unsere gemeinsame dramatische Vergangenheit zu erinnern und an unserer gemeinsamen Zukunft in Europa zu arbeiten? In der nächsten Sitzungswoche werden wir wahrscheinlich darüber debattieren und es hoffentlich auch beschließen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wird es uns gelingen, das Erinnern an die Opfer der nationalsozialistischen Expansion und Vernichtungspolitik zu gewährleisten, ohne dabei einzelne Länder, Regionen oder Opfergruppen in ihrem besonderen Leid, ihren Erfahrungen oder Bedürfnissen zu vergessen oder nicht ausreichend einzubeziehen? Ist es wirklich möglich, das Leid der deutschen Zeugen Jehovas im gleichen Kontext zu würdigen wie die Niederschlagung des Warschauer Aufstands mit der Zerstörung Warschaus durch die Nazis oder die jahrelange Blockade und Belagerung Leningrads, Ereignisse, die sich tief in das nationale Bewusstsein Polens und Russlands eingeprägt haben?

Der Weg, den wir heute mit der Verabschiedung des Antrags der Koalition beschreiten, will das versuchen. Wir Freien Demokraten werden diesen Weg mitgehen, weil wir wissen, dass die Lehren aus der Vergangenheit immer wieder neu gezogen werden müssen. Jede Generation muss sich aufs Neue mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam aus dem Wissen um die Vergangenheit die Zukunft Europas bauen. Schaffen wir den Raum, der die Brücke schlägt aus der Vergangenheit in die Zukunft. Arbeiten wir gemeinsam daran, dass sich das Vergangene nicht wiederholt. Erinnerung und Aufarbeitung sind dabei immer verbunden mit der Begegnung und dem Dialog. Auch dafür braucht es Räume. Aber diese Räume müssen klug – man möchte sogar sagen: weise – gewählt sein. Mit diesem Bewusstsein müssen wir die Möglichkeiten zu verschiedenen Gedenkstättenkonzepten angehen und diese im jeweiligen historischen Kontext betrachten.

Ein rein nationalstaatlich geprägter Raum der Begegnung birgt die Gefahr, auszugrenzen. Ein gemeinsamer Raum schafft ein verbindendes Element, das die Chance hat, allen Opfern, gleich welcher Nationalität, gleichermaßen gerecht zu werden. Und ja, das wird ein schwieriger Prozess; denn ein solches Konzept hat natürlich seine Schwächen. Trauer und Leid sind individuelle schmerzliche Erfahrungen, die eng mit der kulturellen Identität der eigenen Herkunft, der eigenen Heimat verbunden sind. Ein ausschließlich kollektives Erinnern und Trauern gibt es nicht. Deshalb muss der zukünftige Raum trotz allem Verbindenden auch die Möglichkeit zum Einzelgedenken schaffen.

Der millionenfache Mord an Menschen jüdischen Glaubens, an Kriegsgefangenen und Zivilisten, Sinti und Roma, Homosexuellen, politisch Verfolgten – das ist nur ein Auszug aus dem unfassbaren Leid, das auf deutschem Boden seinen Ursprung hat. Diese historische Verantwortung ist Teil unseres Schicksals und Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland.

Trotz der tiefgreifenden Lehren unserer Vergangenheit erleben wir gegenwärtig Jahr für Jahr mehr Hass und Hetze in unserer Gesellschaft. Es ist beschämend, dass im Jahr 2020 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger in ihrem eigenen Land Angst um ihr Leben haben müssen;

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der AfD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

der Präsident hat zu Beginn der Sitzung an den Anschlag von Halle erinnert. Es ist beschämend, dass Ausgrenzung und das Schüren von Ängsten von den Ewiggestrigen auch in diesem Hohen Haus immer wieder auf der Tagesordnung stehen.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Nils Schmid [SPD])

Umso wichtiger wäre es gewesen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, diesen Antrag zumindest mit der demokratischen Mitte dieses Hauses gemeinsam zu entwickeln und zu stellen. Diese Chance haben Sie leider verpasst.

Darum lassen Sie uns nun gemeinsam die Konzepte weiterentwickeln, aus der Mitte des Parlaments, aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Wir Freien Demokraten stehen dafür bereit. Denn wie Jan Assmann es treffend formulierte: „In ihrer kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar: für sich und für andere.“

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7476126
Wahlperiode 19
Sitzung 184
Tagesordnungspunkt Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs
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