09.10.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 184 / Tagesordnungspunkt 30

Mahmut ÖzdemirSPD - Mehr Frauen in den Deutschen Bundestag

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer schon immer mal wissen wollte, woher der Spruch kommt: „Ich würde mich gerne mit Ihnen geistig duellieren, aber wie ich sehe, sind Sie unbewaffnet“, der muss sich nur die Rede meiner Vorrednerin anhören.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Viel zu wenig zitiert wird Marie Juchacz, die vor 101 Jahren sagte:

Es ist das erste Mal, daß in Deutschland die Frau als freie und gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, und ich möchte hier feststellen, ... daß es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat.

So Marie Juchacz vor über 100 Jahren, eine sehr starke Sozialdemokratin.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Was würde sie 100 Jahre später, wenn sie heute noch leben würde, sagen, wenn sie sähe, dass der letzte Deutsche Bundestag einen Frauenanteil von 37,3 Prozent hatte und der aktuelle Deutsche Bundestag nur noch einen Frauenanteil von knapp 30 Prozent hat?

(Dr. Rainer Kraft [AfD]: Haben Sie etwas gegen die Wahlentscheidung des Volkes? Gefällt sie Ihnen nicht?)

Unsere Demokratie ist bei Wahlen blind. Sie achtet nicht auf Mann und Frau. Sie achtet nicht auf Jung und Alt. Sie schaut auch nicht, ob jemand Mahmut oder Horst heißt. Sie ist blind.

(Dr. Rainer Kraft [AfD]: Sie wollen bevormunden!)

Und das ist das Gute an unserer Demokratie: Jede und jeder darf kandidieren. Das ist Freiheit in unserem Land, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zu beachten ist allerdings die Frage: Wie verhält sich diese schrankenlose Freiheit der Demokratie, wenn wir uns anschauen, welche grundgesetzlichen Aufträge uns überantwortet sind von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes? In Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz ist uns die Gleichberechtigung, die wir zu schützen und zu wahren haben, als grundrechtliche Pflicht überantwortet: tatsächliche Durchsetzung fördern, bestehende Benachteiligungen beseitigen. Wer heute behauptet, dass es eine tatsächliche Gleichberechtigung gebe, und behauptet, dass keine Benachteiligungen mehr vorhanden seien, der hat schlicht und ergreifend die Realitäten verkannt und verpasst.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Yvonne Magwas [CDU/CSU])

Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 ist erst 1994 in unser Grundgesetz eingefügt worden. Andere Regelungen sind auch nicht viel älter. Gerade einmal seit 100 Jahren geht es um ein allgemeines Wahlrecht für Frauen. Unsere europäischen Nachbarn – Italien, Belgien, Frankreich – haben erst in den späten 1940er-Jahren diesen Schritt nachvollzogen. Es ist auch noch nicht allzu lange her, dass wir damit begonnen haben, über volle Bürgerrechte für Frauen zu reden. Erst in den 70er-, 80er-Jahren – das muss man sich einmal vorstellen! – ist in allen europäischen Ländern die Nachvollziehung der Gleichberechtigung auch im bürgerlichen Recht erfolgt.

Zwei Beispiele, die mir persönlich immer in Gedanken bleiben: Erst 1977 ist im Bürgerlichen Gesetzbuch gefallen, dass eine Frau der Genehmigung des Mannes bedarf, wenn sie eine Erwerbstätigkeit aufnimmt. 1977! Erst in den 2000er-Jahren ist die Straffreiheit der Vergewaltigung in der Ehe gefallen.

All diese frauenverachtenden – ich betone: frauenverachtenden! – Regeln sind noch nicht lange abgeschafft. Sie sind eine Schande. Sie haben auch viel Leid und Unterdrückung für die Frauen in diesem Land gebracht.

(Beifall bei der SPD)

Wie können wir so etwas endgültig überwinden? Eine Antwort von meiner Fraktion ist ganz klar: Wir brauchen mehr Frauen im Deutschen Bundestag.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Eine besondere Stilblüte ist: Als ich mich auf diese Rede vorbereitet habe, habe ich gelesen: Als die Schweizer das Frauenwahlrecht eingeführt haben, musste man eine Volksabstimmung machen. Die Männer hatten darüber abzustimmen, ob die Frauen das Wahlrecht erhalten sollen, dürfen, mögen oder können. Das ist, glaube ich, eine eher humoristische Anekdote, die ich hier beifügen möchte.

Parteien wie meine vollziehen seit Jahren paritätische Listen im Reißverschlussverfahren zu Kommunalwahlen, zu Landtagswahlen und zu Bundestagswahlen und innerparteiliche Besetzungen mit Quoten – keine Frauenquote, sondern eine Quote für das unterrepräsentierte Geschlecht. In unserer Partei praktizieren wir diese Regelung. Sie ist praktikabel, sie ist geübt, wir haben Erfahrungswerte. Sie ist auch offensichtlich verfassungsfest und gesellschaftlich akzeptiert. Wenn eine Volkspartei wie die SPD, die seit über 150 Jahren für Gleichberechtigung, Emanzipation und Feminismus steht, sie praktizieren kann, dann fordern wir Sie in diesem Hause auf, es der SPD gleichzutun.

(Beifall bei der SPD)

Diesen Weg der Gleichberechtigung verbindlich und chancengleich weiterzugehen, ist unsere Forderung als SPD. Wir möchten eine Regelung für alle Parteien in diesem Land im Wahlrecht verankern. Wir haben sehr sorgfältig darauf geachtet, dass mit den Änderungen im Bundeswahlgesetz auch die Einsetzung einer Reformkommission verbindlich festgeschrieben wird, die unverzüglich ihre Arbeit aufzunehmen hat. Das Bundesverfassungsgericht lässt dem Gesetzgeber einen sehr weiten Spielraum, wie er das Wahlrecht auszugestalten hat. Mit anderen Worten: Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Es ist an uns, diese zu würdigen und ins Werk zu setzen. Ich rufe Sie alle dazu auf, dass wir endlich diesen Schritt gehen.

Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Kollege Özdemir. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Bauer, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Personen

Dokumente

Automatisch erkannte Entitäten beta

Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7476722
Wahlperiode 19
Sitzung 184
Tagesordnungspunkt Mehr Frauen in den Deutschen Bundestag
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine