09.10.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 184 / Zusatzpunkt 13

Alexander Graf LambsdorffFDP - Aktuelle Stunde zur Absage der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde befasst sich auf Antrag der Freien Demokraten mit zwei Themen: Zum einen liegt die Hälfte der deutschen Ratspräsidentschaft hinter uns, und es ist an der Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Zum anderen hat sich die Bundeskanzlerin geweigert, hier im Plenum eine Regierungserklärung zu den großen Gipfeln in Europa abzugeben,

(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Weil sie es auch nicht muss!)

und stattdessen nur einen kleinen Besuch im Europausschuss absolviert, der auch noch in nichtöffentlicher Sitzung tagte. Das ist nicht in Ordnung.

(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Doch!)

Denn hier im Plenum, hier unter der Glaskuppel, die Transparenz symbolisiert, hier ist der Platz für die öffentliche Debatte darüber, was die Bundesregierung in Brüssel in unserem Namen plant, verhandelt und beschließt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Information des Deutschen Bundestages ist kein Gnadenakt der Exekutive, sondern ein Recht dieses Parlaments,

(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Deshalb kam sie ja in den Europaausschuss!)

ein Recht aller Bürgerinnen und Bürger, die uns über alle Parteien hinweg, hierher abgeordnet haben. Es ist ein Armutszeugnis, dass das einmal mehr von der Bundeskanzlerin ignoriert wird.

(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Das ist falsch! Sie war im Europaausschuss!)

Eine nichtöffentliche Sitzung ist kein Ersatz für eine Plenardebatte, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Doch! Nach unseren Gepflogenheiten, ja!)

Allerdings, lieber Kollege Krichbaum, kann ich das Vorgehen irgendwo auch verstehen.

(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Ja, weil es seit Langem üblich ist! Da waren Sie noch nicht in diesem Bundestag!)

Bei der Zwischenbilanz Ihrer Ratspräsidentschaft würde ich mich auch hinter geschlossenen Türen verstecken.

(Beifall des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])

Mehrjähriger Finanzrahmen, Gemeinsames Europäisches Asylsystem, Brexit-Verhandlungen, Rechtsstaatlichkeit,

(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Genau das hat sie im Europaausschuss vorgetragen!)

echter Fortschritt ist auf keinem dieser Felder zu erkennen. Von der Aufbruchstimmung, die Sie hier vor einigen Monaten verbreitet haben, ist nicht viel übrig. Stattdessen herrscht Katerstimmung.

Ich will zu einem Thema sprechen, am dem dies besonders deutlich wird: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Meine Damen und Herren, wir stehen vor der schwersten Verfassungskrise in der Geschichte der Europäischen Union. Timothy Garton Ash hat neulich die Frage gestellt, ob das Überleben der Demokratie in Polen langfristig noch gesichert sein kann.

(Norbert Kleinwächter [AfD]: Jetzt tragen Sie aber dick auf!)

In Bezug auf Ungarn hat er schlicht und richtig festgehalten: Ungarn ist keine Demokratie mehr. – Was heißt das konkret?

Schauen wir auf Polen. Es geht um die Kontrolle der polnischen Regierung über den Rundfunk, die Entlassung Hunderter Journalisten und eine Justizreform, die das Verfassungsgericht zum willfährigen Vollstrecker der Kaczynski-Regierung macht.

Zu Ungarn. Schauen wir auf die Medienlandschaft, egal ob es Radio, Fernsehen, Online oder Print ist – ganz konkret –: Alle Bereiche sind vom Staat kontrolliert oder gleichgeschaltet. Die Medienholding MTVA wurde zentralisiert und auf Linie gebracht. Die regionale Presse ist vollständig im Besitz orbantreuer Unternehmer. Erst vor Kurzem kündigten nach der Absetzung des Chefredakteurs des Nachrichtenportals „Index“ fast alle Mitarbeiter aus Protest. Dazu hat jetzt auch das unabhängige Klubradio seine letzten Sendelizenzen verloren.

(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, unglaublich!)

Die Justiz ist schon lange gleichgeschaltet. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes in Sachen Central European University kam zu spät.

In diese Lage fällt die deutsche Ratspräsidentschaft.

(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was tut die? Nichts!)

Gleichzeitig fällt genau in diese Phase die Ausgestaltung des EU-Haushalts für die nächsten sieben Jahre. Ungarn und Polen, die Raubbau an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit betreiben, sind die größten Empfänger von EU-Geldern und bleiben auf diese angewiesen.

Noch vor wenigen Jahren hat die Kommission richtigerweise eine strengere Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit angestrebt, diese Pläne jetzt aber verworfen und aktuell vorgeschlagen, einen Geldentzug nur dann zu ermöglichen – Zitat –, „wenn ein Mangel an Rechtsstaatlichkeit die Grundvoraussetzungen für eine wirtschaftliche Haushaltsführung zu beeinträchtigen droht“. Ein schwacher Vorschlag! Es geht um Rechtsstaatlichkeit! Es geht um Demokratie! Es geht nicht um wirtschaftliche Haushaltsführung.

(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

Was könnte die Bundesregierung nicht alles tun mit der gesamten Kraft der Ratspräsidentschaft? Zum Beispiel für ein System werben, das über dieses Modell hinausgeht? Aber was tut sie? Sie stampft diesen ohnehin schon schwachen Vorschlag noch weiter ein,

(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

sodass er jetzt nur noch eine Art Finanzprüfung darstellt, wie sie jeder Rechnungshof macht. Das hat mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie überhaupt nichts mehr zu tun, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Bei Kritik an dem Vorschlag verweist die Bundesregierung dann auf Ungarn und Polen, die etwas anderem ja nicht zustimmen würden. Meine Damen und Herren, so leid es mir tut: Wer einen Sumpf trockenlegen will, der darf nicht die Frösche fragen. – Die Niederländer, die Skandinavier sind entsetzt, sind entgeistert von der Überzeugungsschwäche, dem Mangel an Überzeugungskraft dieser Bundesregierung. Anstatt für Ihre Ideen zu kämpfen, stellen Sie seit Wochen vorauseilenden Gehorsam ins Schaufenster. Für die Freien Demokraten ist klar: Wer die Grundwerte der EU mit Füßen tritt, kann nicht mit vollen Händen ihre Gelder abgreifen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Bitte – das ist mein Ceterum censeo –: Dass Sie, die Union, Orbans unsägliche Fidesz-Partei immer noch nicht aus den Reihen der EVP ausgeschlossen haben, das kann doch nicht sein. Es kann doch nicht sein, dass Sie als Union gestern im Europaparlament versuchen, eine Resolution gegen die Korruption in Bulgarien mit Rücksicht auf GERB zu blockieren. Es kann doch nicht sein, dass man von Ihnen keinen Ton hört, wenn die Justizkommissarin Jourova von Orban wüst beschimpft wird, nur weil sie die Dinge in Ungarn beim Namen nennt.

Bitte setzen Sie sich, auch Sie von der Union, mit allen Mitteln, mit aller Kraft und auf allen Wegen für die Verankerung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im nächsten EU-Haushalt ein.

(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Das tun wir schon lange!)

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Katja Leikert, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7476768
Wahlperiode 19
Sitzung 184
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde zur Absage der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
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