Leni BreymaierSPD - Aktuelle Stunde zur Absage der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist Halbzeit. Die Halbzeit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist keine Pause und kein Zeitfenster, um Kräfte zu sammeln, um etwas zu trinken oder um letzte Anweisungen der Trainerin zu erhalten. Die Halbzeit ist eine Zeit für eine Zwischenbilanz. Wir checken, ob wir auf dem richtigen Weg sind. So viele Begegnungen hatten wir uns vorgenommen, so viel Austausch, so viel lebendiges Europa.
(Norbert Kleinwächter [AfD]: So viele Eigentore! Da kommen Sie gar nicht mehr raus!)
Die Pandemie hat den persönlichen Begegnungen oft einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und doch empfinde ich den Auftrag, unser Europa in dieser Ratspräsidentschaft gut fortzuentwickeln, als persönlichen Auftrag für jede Demokratin und jeden Demokraten hier im Haus.
Ich habe nicht wie Axel Schäfer, Franziska Brantner oder Alexander Graf Lambsdorff praktische Erfahrungen im Europaparlament. Ich kann hier einfach nur biografisch auf Europa schauen. Ich bin Jahrgang 1960. Ich hatte uralte Eltern. Mein Vater war Jahrgang 1916, meine Mutter Jahrgang 1919; ein Haufen Kinder, keine Pille. Mein Vater ist im Ersten Weltkrieg geboren, er war im Zweiten Weltkrieg Soldat. Meine Mutter war Krankenschwester in deutschen Lazaretten in Frankreich. Mein Großvater war im Ersten Weltkrieg. Die Generationen davor haben sich hier jahrhundertelang wegen allem Möglichen die Köpfe eingeschlagen.
Ich bin mit dem Friedensversprechen Europas großgeworden. Es war aber nicht so, dass man jeden Tag beim Mittagessen das Friedensversprechen Europas angesprochen hat. Da hieß es eher: Iss deinen Teller leer. – Wir wären froh gewesen, wir hätten etwas gehabt.
Nun ist es so, dass dieses Friedensversprechen alleine nicht mehr trägt. Wir müssen diesem Friedensversprechen noch etwas hinzufügen. Dieses Friedensversprechen trägt nicht mehr bei den Griechen in Südeuropa, die wir alleine lassen mit den großen Problemen.
(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Wir haben den Griechen Flüchtlinge abgenommen!)
Wir müssen dem Friedensversprechen ein soziales Versprechen, ein Klimazielversprechen, ein Menschenrechtsversprechen und ein Rechtsstaatsversprechen hinzufügen.
(Jürgen Braun [AfD]: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!)
Auf der einen Seite stehen diese großen Worte, auf der anderen Seite hat man seine konkreten Arbeitsbereiche. Wenn ich meine Arbeitsbereiche hier im Haus anschaue, dann muss ich sagen, dass wir da schon einiges auf den Weg gebracht haben. Franziska Giffey
(Jürgen Braun [AfD]: Frau Dr. Giffey!)
hat zum Beispiel dem Thema „Gewalt an Frauen“ eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt und schenkt dem noch immer besondere Aufmerksamkeit.
(Beifall des Abg. Christian Petry [SPD] – Norbert Kleinwächter [AfD]: Wie oft hat sie abgeschrieben?)
Wenn ein Drittel der Frauen in Europa körperliche oder auch sexuelle Gewalt erlebt, ein Fünftel Opfer häuslicher Gewalt ist und über die Hälfte sexuell belästigt wurde, ist es gut, wenn die Bekämpfung von Gewalt an Frauen ein Arbeitsschwerpunkt ist. Am Ende unserer Ratspräsidentschaft werden wir eine europaweite Hotline haben, eine Telefonnummer, an die sich Frauen wenden können und die gerne auf allen Hygieneartikeln abgedruckt werden darf. So wird es sein.
Ich hoffe, die Ministerin schafft es, in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats die Programmatik der EU um den Punkt „unbezahlte Sorgearbeit“ zu erweitern. Das haben wir seit Beginn der Coronakrise alles gelernt. Es ist natürlich schwer: Auf der einen Seite wollen wir da vorangehen, und auf der anderen Seite haben wir Osteuropa, wo man irgendwie alles ausbremst, worin auch nur irgendwo das Wort „Gender“ vorkommt.
(Beifall des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])
Das kommt einem so vor, als würde Herr Orban, wenn er das Wort „Gender“ hört, gleich den Knoblauch an die Tür hängen aus Angst, der böse Vampir rammt ihm gleich die Zähne in den Hals. Das macht einfach dieses Projekt Europa auch furchtbar schwer. In Polen wollen sie das Abtreibungsrecht verschärfen, und Sexualaufklärung an Schulen verbieten. Verhütungsmittel dürfen nicht mehr an Unter-18-Jährige verschrieben werden. Das hat wirklich was mit unserer Wertegemeinschaft zu tun. Das dürfen wir so nicht durchgehen lassen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Kleinwächter [AfD]: Das sind also die Werte der EU! Verhütungsmittel! Ich glaube es nicht!)
Noch eins: Ich sitze hier nicht auf dem hohen Ross und zeige nicht mit erhobenem Finger dort hinüber und darauf, wie schwer Frauen es da haben. Ich nehme auch zur Kenntnis, wie in Deutschland osteuropäische und südosteuropäische Frauen in Bordellen ausgebeutet werden und schwerste Menschenrechtsverletzungen erleiden. Auch das hat etwas mit Europa zu tun.
(Beifall bei der SPD)
Da müssen wir rangehen, und darüber müssen wir reden, jetzt vielleicht während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und auf jeden Fall auch danach.
Wir haben keine Pause in dieser Halbzeit. Wir schärfen unseren Blick und werden Stück für Stück dem Friedensversprechen Europas ein soziales Versprechen, ein Klimaversprechen, ein Menschenrechtsversprechen und ein Rechtsstaatlichkeitsversprechen hinzufügen. Daran lassen Sie uns bitte arbeiten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD)
Werte Kolleginnen und Kollegen, gibt es etwas Schöneres, als zu seinem Geburtstag hier eine Rede zu halten?
(Heiterkeit)
Der nächste Redner ist unser Geburtstagskind des heutigen Tages: der Kollege Thomas Hacker, FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Lieber Thomas, du hast aber trotzdem nur fünf Minuten.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7476776 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 184 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde zur Absage der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin |