09.10.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 184 / Zusatzpunkt 13

Thomas HackerFDP - Aktuelle Stunde zur Absage der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herzlichen Dank für die Glückwünsche! – Am 1. Juli dieses Jahres übernahm Deutschland die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union.

Die Aufgaben vor uns sind gewaltig; und sie verlangen gewaltige Anstrengungen. Sie brauchen eine parlamentarische Auseinandersetzung, sie brauchen politische Vermittlung, sie brauchen kulturelle Übersetzungen in die verschiedenen Länder und Regionen.

Mit diesen Worten erklärte die Bundeskanzlerin am 8. Juli 2020 in Brüssel die Maxime der deutschen Ratspräsidentschaft. Herr Kollege Seif, manchmal muss man sich an seine eigenen Worte auch erinnern.

Wo steht Europa denn heute nach drei Monaten? In Westminster torpediert Ministerpräsident Boris Johnson mit seiner Internal Market Bill einen völkerrechtlichen Vertrag und führt das engagierte Bemühen der EU ad absurdum. Wenn nach 2021 der Reisepass für die Einreise in das Vereinigte Königreich für EU-Bürger zur Pflicht werden soll, diskutiert das Königreich lieber über eine Brücke nach Nordirland als über eine vernünftige Lösung zwischen Iren und Nordiren. Zudem fragen sich zu Recht die Menschen: Was unternimmt Deutschland in dieser Situation?

Seit Wochen und Monaten demonstrieren Hunderttausende in Minsk für eine Zukunft in Freiheit, ohne Willkür und Gewalt. Ihr Blick richtet sich dabei auch nach Europa und Deutschland. Während die belarussische Oppositionspolitikerin Tichanowskaja von Russland auf die Fahndungsliste gesetzt wurde, darf sie sich hier bei ihrem Berlin-Besuch von der Bundeskanzlerin Hinweise geben lassen, wie denn die Lage in Belarus verändert werden kann, wie Belarus aus seiner eigenen Lage herauskommen könnte. Ihrer Bitte nach härteren EU-Sanktionen gegen ein Regime, das alte Frauen zusammenprügeln lässt und Journalisten aus dem Land wirft, kommt man dann aber doch nicht nach.

Diese Woche urteilte der EuGH, dass Ungarns Hochschulgesetz und der Bann der Central European University gegen Unionsrecht verstoßen. Das Europäische Parlament hat unmissverständlich klargemacht, dass Ungarns und Polens Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeitsprinzipien endlich mit Sperrungen von EU-Mitteln zu ahnden sind. Ein schlagkräftiger Mechanismus, der mit umgekehrter qualifizierter Mehrheit operiert, darf nicht beerdigt werden.

(Beifall bei der FDP)

Die Verantwortung, dies zu erreichen, liegt bei der Ratspräsidentschaft.

Bergkarabach, Hongkong, Moria – die Liste der Brennpunkte unserer Tage lässt sich beliebig fortsetzen, von den immensen Herausforderungen der Coronapandemie und der Klimakrise ganz zu schweigen. Und bei all diesen Problemen richtet sich der Blick nach Deutschland, auf die größte Volkswirtschaft Europas und den derzeitigen Ratspräsidenten. Die Menschen wollen wissen: Was kann und was macht Deutschland? In dieser Woche wäre die Gelegenheit gewesen, Antworten zu geben, Positionen zu erläutern und die parlamentarische Auseinandersetzung zu suchen – vergeblich!

Die Absage der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zwischen zwei Europäischen Räten ist unverständlich und eine vergebene Chance.

(Beifall bei der FDP)

Die Menschen draußen müssen genauso lange auf die Antworten warten wie die Mitglieder dieses Hauses. Wo ist die parlamentarische Auseinandersetzung? Wo ist die politische Vermittlung? Wo ist die kulturelle Übersetzung, die vor drei Monaten noch so wichtig war?

(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! So ist es!)

Genau aus diesem Grund haben wir Freien Demokraten diese Aktuelle Stunde beantragt. Die Teilhabe an den europäischen Prozessen und die Fortschritte oder Verzögerungen der Arbeit der Bundesregierung gehören in die Mitte des Parlaments und nicht in den Europaausschuss.

(Beifall bei der FDP)

Lieber Kollege Hahn, die einstündige Diskussion mit der Bundeskanzlerin im nichtöffentlich tagenden Europaausschuss ist eben allenfalls nur für die wenigen besser, die dort dabei sein können. Die Kanzlerin hatte das sofort verstanden. Natürlich sind die Themen in Europa komplex, und Verhandlungen und Entscheidungen brauchen Vertrauen. Aber Europa braucht in diesen Zeiten vor allem auch Transparenz.

Die Menschen in unserem Land haben zu Recht Fragen zu den Entscheidungen, die auf europäischer Ebene und auf internationaler Ebene getroffen werden. Sie fragen sich: Warum dauert es so lange, bis die EU härtere Sanktionen gegen das Regime in Belarus verhängt, und warum kann Herr Lukaschenko immer noch auf seine Konten im Ausland zugreifen? Sie fragen sich: Warum dürfen Ungarn und Polen scheinbar machen, was sie wollen, als ob das Rechtsstaatsprinzip nur „nice to have“ wäre? Sie fragen sich: Warum scheitert Europa an einer klaren und einvernehmlichen Stimme in der Flüchtlingspolitik, die Menschlichkeit und Rechtsstaat in Einklang bringt?

(Beifall bei der FDP)

Die Menschen möchten verstehen, was gerade passiert. Diese Antworten dürfen wir ihnen nicht schuldig bleiben. Nur dann kann es uns gelingen, Europa gemeinsam weiterzuentwickeln. Wer es mit Europa ernst meint, der muss europapolitische Diskussionen auch in die öffentliche Wahrnehmung bringen. Nur so können wir die Menschen begeistern, sich aktiv an der Zukunft Europas zu beteiligen, auch an der bevorstehenden Konferenz zur Zukunft Europas.

Meine Bitte an die Bundeskanzlerin: Bitte vergessen Sie die selbst gewählte Maxime Ihrer Präsidentschaft nicht, und nehmen Sie die Menschen und uns auf diesem Prozess mit! Tragen Sie durch eine offene Debatte hier im Haus dazu bei, dass die Menschen in Deutschland Europa verstehen.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Eine schöne Geburtstagsparty!


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7476777
Wahlperiode 19
Sitzung 184
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde zur Absage der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
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