29.10.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 186 / Zusatzpunkt 3

Christian LindnerFDP - Regierungserklärung - Bewältigung der COVID-19-Pandemie

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag tritt heute zusammen, nachdem gestern empfindliche Einschränkungen der Freiheit beschlossen worden sind. Diese Entscheidungen betreffen Millionen Menschen; sie haben Auswirkungen auf das soziale Miteinander und die wirtschaftliche Zukunft des Landes. Sie wurden ohne Öffentlichkeit und nur von Regierungsspitzen getroffen, aber sie binden 16 bzw. 17 Koalitionsregierungen und Legislativen.

Der Deutsche Bundestag kann diesen Beschluss nur noch nachträglich zur Kenntnis nehmen. Solche Entscheidungsprozesse gefährden nicht nur die Akzeptanz der Coronamaßnahmen, sie enthalten auch erhebliche rechtliche Risiken und drohen unsere parlamentarische Demokratie zu deformieren.

(Beifall bei der FDP und der AfD)

Man kann zu dem Schluss kommen, dass weitreichende Grundrechtseinschränkungen – die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der Ausübung des Berufs – notwendig sind, um die Pandemie zu kontrollieren. Diese Entscheidungen sollten hier aber nicht nur kommentiert, sondern nach harter argumentativer Auseinandersetzung in öffentlicher Sitzung und gesetzlich getroffen werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)

Frau Merkel, Sie haben gesagt, Debatte stärke die Demokratie. Das ist richtig. Dafür muss die Debatte aber vor der Entscheidung stattfinden, und der Ort der Entscheidung muss das Parlament sein.

(Beifall bei der FDP und der AfD)

Die Pandemie ist leider zum Alltag und die Notlage zur Normalität geworden, und deshalb gehört die Pandemiebekämpfung zurück in die Parlamente. Alle Fraktionen dieses Hauses sehen inzwischen diese Notwendigkeit, außer der Unionsfraktion alle auch mit hoher Dringlichkeit.

(Jan Korte [DIE LINKE]: Das stimmt!)

Die dazu notwendige gemeinsame interfraktionelle Initiative sollten wir nicht erst irgendwann, sondern umgehend und aus der Mitte dieses Hauses ergreifen.

(Beifall bei der FDP)

Das Pandemiegeschehen in Deutschland ist dynamisch. Wir sind alle in Sorge um die Gesundheit unserer Angehörigen und Freunde oder um die eigene. Es ist richtig, die Zahl unserer Kontakte zu verringern und Abstände einzuhalten. Das Infektionsgeschehen muss durch wirksame, regional ausgerichtete und verhältnismäßige Maßnahmen eingedämmt werden.

Frau Merkel hat mehrfach betont, die Beschlüsse des gestrigen Tages seien erforderlich, geeignet und verhältnismäßig. Diese Feststellung alleine reicht nicht. Das muss mit Argumenten untermauert werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD – Zuruf von der AfD: Und mit Fakten!)

Denn schließlich werden nun beispielsweise auch Gastronomiebetriebe, Hotels, Freizeit- und Kultureinrichtungen sowie Kosmetikstudios geschlossen. Übernachtungsangebote werden massiv eingeschränkt. Sport wird eingeschränkt. Es werden damit Bereiche geschlossen, die eben nicht regelmäßig als Infektionstreiber aufgefallen sind, sondern die nötigenfalls sogar eine Nachverfolgung ihrer Gäste sicherstellen könnten.

(Beifall bei der FDP)

Wenn durch ihre Schließung Menschen in unkontrollierte Graubereiche gedrängt werden, dann ist für die Bekämpfung der Pandemie nichts gewonnen, ganz im Gegenteil.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Franziska Gminder [AfD])

Es schließen wieder pauschal und flächendeckend Betriebe, nachdem die pauschalen Beherbergungsverbote gerade erst von Gerichten verworfen worden sind. Die Regierungen gehen damit erneut rechtliche Risiken ein. Die Berechenbarkeit staatlichen Handelns darf aber nicht fortwährend infrage gestellt werden.

(Beifall bei der FDP)

Der Staat hat es bisher zu oft nicht vermocht, die Infektionsrisiken von unkontrollierten Massenveranstaltungen zu unterbinden. In Berlin wurde die Unterstützung durch die Bundeswehr abgelehnt, obwohl Gesundheitsämter personell am Limit arbeiten.

(Zuruf von der LINKEN: In einem Bezirk!)

Widersinnige Regeln haben den Familienurlaub von Rügen nach Rhodos umgelenkt.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der AfD)

Der gestrige Tag hat zudem gezeigt, dass die Politik es nicht erreicht hat, sich auf die absehbar im Herbst steigenden Fallzahlen vorzubereiten. Viele Betriebe hingegen haben in Hygienekonzepte investiert. Viele Menschen haben sich sorgsam auf den Herbst vorbereitet. Diese Menschen zahlen jetzt den Preis dafür, dass der Staat es nicht genauso getan hat. Viele Schließungen sind deshalb für den Gesundheitsschutz nicht nur unnötig, sie sind gegenüber den Menschen unfair.

(Beifall bei der FDP und der AfD)

Für die von der Schließung Betroffenen gewährt die Regierung eine außerordentliche Wirtschaftshilfe. Sie wird nolens volens genutzt werden. Sie ist aber nur ein schwacher Trost; denn die Menschen wollen nicht dauerhaft Finanzhilfe vom Staat. Sie wollen arbeiten und öffnen, und das sollten sie überall dort dürfen, wo der Gesundheitsschutz möglich ist.

(Beifall bei der FDP)

Wenn Schäden der Krisenpolitik immer weiter mit Schulden kompensiert werden müssen, wird selbst dieser Staat an die Grenze seiner finanziellen Handlungsfähigkeit und in den Schuldensumpf geführt. Die Folgen für soziale Sicherheit, sozialen Frieden und den Wohlstand würden wir Jahrzehnte spüren, und deshalb ist eine Umkehr notwendig. Dieses Land sollte seine Ressourcen nicht einsetzen, den Stillstand zu finanzieren. Wir müssen sie einsetzen, um öffentliches, kulturelles und wirtschaftliches Leben zu ermöglichen.

(Beifall bei der FDP)

Die jetzt beschlossenen Maßnahmen wirken sich im Übrigen nicht nur bei den unmittelbar Betroffenen aus. Die mittelbaren Nebenwirkungen werden wir im Handel und bei der Investitionsbereitschaft in der ganzen Volkswirtschaft sehen. Die aktuelle Entwicklung der Kapitalmärkte ist dafür nur ein Indiz. Dieser zweite Lockdown sollte daher der Anlass sein, die Standortattraktivität Deutschlands insgesamt anzugehen. Vorschläge zum Verzicht auf Bürokratie, zur Beschleunigung von Investitionsvorhaben oder zur steuerlichen Entlastung haben wir eingereicht.

Aber eine Maßnahme hebe ich hervor: Es ist dringlich, die volle Verrechnung der Verluste dieses Jahres bei der Steuer mit den Gewinnen mindestens der beiden Vorjahre umgehend zu ermöglichen. Das Land wartet auf diese zielgerichtete, unbürokratische Sicherung der Zahlungsfähigkeit von Soloselbstständigen bis hin zur Industrie.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der AfD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, unabhängig davon, wie wir die aktuellen Maßnahmen im Einzelnen bewerten, hoffen wir mit Ihnen, dass sie im Ergebnis zumindest die aktuelle Welle brechen können. Aber was kommt danach? Was passiert im Dezember? Darauf haben wir bislang keine Antwort gehört. Der Impfstoff, er wird dann noch nicht verfügbar sein, und selbst wäre er es, werden wir noch länger mit Corona leben müssen.

Was passiert also, wenn nach den Weihnachtsferien die Fallzahlen erneut steigen? Droht dann im Januar mit der dritten Welle auch der dritte Lockdown und dann später die vierte Welle mit dem vierten Lockdown?

(Ulli Nissen [SPD]: Was will die FDP?)

Sollen irgendwann – um das kolportierte Zitat aus Unionskreisen zu verwenden – die Zügel so stark angezogen werden, dass auch die Wohnungsdurchsuchungen aus der Vorstellungswelt bestimmter Mitglieder dieses Hauses durchgeführt werden?

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Eines Mitglieds!)

Die Unverletzlichkeit der Wohnung ist ein Grundrecht, und wem unsere Verfassungsordnung heilig ist, der stellt das nicht infrage.

(Beifall bei der FDP und der AfD)

Es ist nun Zeit, dass dieses Land vom aktionistischen Krisenmanagement zu einer nachhaltigen und dauerhaft durchhaltbaren Risikostrategie wechselt. Im März musste kurzfristig gehandelt werden. Im Sommer schien der Staat überrascht von Urlaubsheimkehrern und jetzt von saisonal steigenden Fallzahlen. Jedes Mal Showdown-Sitzungen, jedes Mal aktionistische und teils in sich widersprüchliche Maßnahmen. Mag dieser zweite Lockdown auch milder sein als der erste: Es muss nun der letzte gewesen sein.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Bruno Hollnagel [AfD])

Gestern, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat ein beachtlicher Teil der organisierten Ärztinnen und Ärzte zusammen mit namhaften Experten Bedenken gegenüber Ihren Beschlüssen geäußert. Es wurden andere Vorschläge für die Bewältigung dieser Krise vorgelegt. Frau Bundeskanzlerin, dieser Gruppe kann und darf man nicht Populismus oder Unkenntnis unterstellen, nur weil sie zu anderen Abwägungen kommt als Sie.

(Beifall bei der FDP und der AfD sowie des Abg. Frank Steffel [CDU/CSU] – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das hat sie auch nicht gemacht! Das sollte man ihr nicht unterstellen!)

Diese Gruppe setzt auf Gebote statt Verbote, um an die Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger zu appellieren und der Gewöhnung an Panikvokabular vorzubeugen. Sie regt die Konzentration der Ressourcen auf die Bevölkerungsgruppen an, die ein hohes Risiko für schwere Krankheitsverläufe haben. Im gestrigen Beschluss ist das nur einer von 16 Punkten, der im Übrigen heute von der Frau Bundeskanzlerin noch einmal relativiert worden ist. Systematische Tests und Masken mit höchstem Schutzniveau können aber Menschenleben retten und zugleich der Vereinsamung unserer Eltern und Großeltern entgegenwirken.

(Beifall bei der FDP)

Die Gruppe schlägt ein bundesweit einheitliches Ampelsystem vor, das regional differenzierte Maßnahmen nachvollziehbar macht. Diese Anregungen könnten Basis eines Umgangs mit der Pandemie sein, der Handlungssicherheit bietet, der dauerhaft durchhaltbar ist und der uns vom Aktionismus befreit. Aber selbst dann, wenn man diese Vorschläge nicht oder zumindest nicht sofort teilt, belegen sie eines: Die Krisenpolitik der Regierung ist nicht alternativlos. Eine vertiefte Debatte über Alternativen zu den beispiellosen Freiheitseinschränkungen dieser Tage

(Zuruf der Abg. Ulli Nissen [SPD])

findet hier im Zentrum unserer Demokratie indessen nicht hinreichend statt.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Bei Ihnen vielleicht nicht!)

Aber jeder Vorschlag, der Gesundheitsschutz und Freiheit in eine bessere Balance bringt als Ihre Politik, hätte eine ernsthafte und ergebnisoffene Prüfung verdient.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD – Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Sie sitzen da schon nebeneinander! Machen Sie doch gleich eine gemeinsame Fraktion! – Gegenruf des Abg. Dr. Marco Buschmann [FDP]: Schämen Sie sich! Schämen Sie sich! – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Ja, da haben Sie völlig recht, Herr Buschmann! – Manuel Höferlin [FDP]: Das war ein peinlicher Spruch!)

Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Ralph Brinkhaus.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7480380
Wahlperiode 19
Sitzung 186
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung - Bewältigung der COVID-19-Pandemie
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