29.10.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 186 / Tagesordnungspunkt 15

Christoph MatschieSPD - 75 Jahre Vereinte Nationen

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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich will in dieser Debatte mit den wichtigsten Zielen der Vereinten Nationen beginnen – ab und zu muss man sich die noch mal ins Gedächtnis rufen; sie stehen am Beginn der Charta der Vereinten Nationen –: die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Staaten, die internationale Zusammenarbeit zur Lösung globaler Probleme und die Wahrung der Menschenrechte. Das sind die Kernziele der Vereinten Nationen.

Wir haben natürlich auch in dieser Debatte gehört, dass die Vereinten Nationen zum Teil kritisiert werden: Sie seien zu schwach, sie machten nicht genug, der Generalsekretär sei nicht bekannt genug. Auf der anderen Seite ist auch klar: 75 Jahre Vereinte Nationen sind ein Grund zu feiern. Die Vereinten Nationen sind kein perfektes Gebilde; das können sie auch nicht sein. Und sie werden oft mit Erwartungen überfrachtet, die sie nicht erfüllen können.

Ich will an dieser Stelle Dag Hammarskjöld zitieren, einen ehemaligen UN-Generalsekretär, der angesichts der Überfrachtung der Vereinten Nationen mit Erwartungen mal den Satz geprägt hat:

Die Vereinten Nationen wurden nicht geschaffen, um die Menschheit in den Himmel zu führen, sondern um sie vor der Hölle zu retten.

Nun glaube ich, dass die Vereinten Nationen trotzdem mehr sind als das. Aber es wichtig, noch mal klarzumachen, dass sie nicht für jede Aufgabe herhalten können, dass sie nicht jede Erwartung erfüllen können, sondern dass sie spezifische Aufgaben haben und dass sie am Ende davon abhängig sind, wie die Mitgliedstaaten innerhalb der Vereinten Nationen agieren.

Man muss sich nur mal einen Moment lang vorstellen, wie die Welt ohne diese Organisation aussähe. Ich will es nur ganz kurz an drei Beispielen deutlich machen:

Was wäre, wenn es keinen Sicherheitsrat gäbe, in dem wichtige internationale Probleme verhandelt werden? Und ja – ich weiß –: Oft gibt es eine Blockade im Sicherheitsrat, oft gibt es kein gemeinsames Ergebnis. Aber immerhin ist er auch dann ein wichtiges Forum des Interessenaustausches. Und es ist zehnmal besser, dort zu sitzen und zu reden, als dass es zu aggressiven Handlungen kommt.

Oder man stelle sich eine Welt ohne das Welternährungsprogramm vor, das gerade – wie ich finde, zu Recht – den Friedensnobelpreis bekommen hat und aktuell 100 Millionen Menschen in Krisengebieten mit Nahrungsmitteln versorgt. Oder man stelle sich vor, wie die Situation von über 60 Millionen Flüchtlingen weltweit ohne die Arbeit des UNHCR wäre.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, neben dieser unmittelbaren Nothilfe, neben der Aufgabe, in Krisen koordinierend zu wirken, hat die UN aber auch eine darüber hinausreichende, eine gestaltende Aufgabe – und die nimmt sie auch an –, nämlich gemeinsam globale Probleme zu lösen. Ich denke an die Vereinbarung zum Klimaabkommen. So mühsam das auch ist, so langsam wir auch vorankommen – ohne eine gemeinsame Plattform für die Anstrengungen ginge es überhaupt nicht weiter. Ich denke auch an die 2030-Agenda für Nachhaltige Entwicklung – auch ein wichtiges Instrument der gegenseitigen Verständigung über die Frage: Wo wollen wir denn hin, wo sind die Prioritäten der gemeinsamen Anstrengungen?

Ich finde es geradezu widersinnig, Herr Hampel, dass Sie auf der einen Seite die Notwendigkeit der Vereinten Nationen betonen und auf der anderen Seite aus Aktivitäten wie der gemeinsamen Bekämpfung des Klimawandels oder der Agenda 2030 mit den gemeinsamen Entwicklungszielen aussteigen wollen.

(Armin-Paulus Hampel [AfD]: Auf die Kernkompetenz konzentrieren, Herr Kollege!)

Das erschließt sich mir überhaupt nicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, die Anstrengungen wirken. Ich habe mir zwei Bereiche herausgegriffen, nämlich die Bekämpfung von Armut und Hunger sowie die Bildungssituation. 1990, vor 30 Jahren, gab es 1 Milliarde unterernährte Menschen auf der Welt. Heute sind es bei einer um 2,5 Milliarden Menschen gewachsenen Weltbevölkerung noch 670 Millionen – immer noch viel zu viele, aber doch ein deutlicher Fortschritt bei der Bekämpfung von Armut und Hunger.

Oder wenn wir uns die Bildungssituation anschauen: Vor 30 Jahren waren noch etwa 30 Prozent aller Kinder und Jugendlichen nicht in der Lage, eine Schule zu besuchen. Heute sind es noch 17 Prozent – immer noch viel zu viele, aber auch hier ein deutlicher Fortschritt in der Entwicklung. Natürlich ist dazu das Handeln der einzelnen Staaten notwendig. Aber dass dieses Handeln koordiniert werden kann, mit gemeinsamen Zielen versehen werden kann und auch finanziell gemeinsam unterstützt werden kann, das ist ein wichtiger Fortschritt, und dazu braucht es die Vereinten Nationen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Werte Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den letzten Jahren verstärkt neue geopolitische Auseinandersetzungen gesehen, die auch die Vereinten Nationen massiv unter Druck setzen. Deshalb war es vielleicht die wichtigste strategische Entscheidung der Bundesregierung, des Außenministers, etwas dagegenzusetzen, nämlich die „Allianz der Multilateralisten“, ein etwas sperriger Titel. Aber was anderes soll man denn tun, wenn die großen und globalen Mächte wie die USA und China sich von der Unterstützung der Vereinten Nationen abwenden oder sie nur noch selektiv akzeptieren? Dann muss man die anderen Staaten, die ein Gewicht aufbringen können, zusammenschließen, und man muss gemeinsam handeln. Genau das tut die Allianz der Multilateralisten. Ich finde, das war ein wichtiger strategischer Schritt der Bundesregierung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Werte Kolleginnen und Kollegen, nun zur Frage der Reformen. Ja, die Vereinten Nationen brauchen weitere Reformen. Einige Reformschritte hat der Generalsekretär auf den Weg gebracht. Aber auch die lange diskutierte Reform des Sicherheitsrates muss auf der Agenda bleiben. Der Sicherheitsrat bildet die globalen Kräfteverhältnisse heute nicht mehr ab, und er muss reformiert werden. Die Debatte läuft seit Langem. Aber wir müssen sie weiterverfolgen, damit der Sicherheitsrat an Legitimität und Anerkennung bei seinen Entscheidungen gewinnt. Ja, dafür braucht es eine komplizierte Änderung der UN-Charta. Aber wir sollten in dem Bestreben nicht lockerlassen, auch wenn die Aussichten unter den gegenwärtigen Bedingungen eines geostrategischen Wettbewerbs von Großmächten schwieriger geworden sind.

Zum Schluss noch einmal der Hinweis: Entscheidend für das Funktionieren der Vereinten Nationen ist der Wille der Mitgliedstaaten, sich einzubringen und gemeinsam die Ziele zu verfolgen, die man vereinbart hat. Deutschland ist inzwischen, wenn man die regulären und die zusätzlichen Mittel zusammennimmt, der zweitgrößte Geber. Es gibt eine hohe öffentliche Unterstützung in Deutschland. Deshalb glaube ich, dass Deutschland auch in Zukunft ein kraftvoller Akteur bei der Gestaltung der Vereinten Nationen sein kann.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Ulrich Lechte [FDP])

Vielen Dank, Herr Kollege Matschie. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Heike Hänsel, Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7480496
Wahlperiode 19
Sitzung 186
Tagesordnungspunkt 75 Jahre Vereinte Nationen
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