30.10.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 187 / Zusatzpunkt 21

Helge LindhSPD - Aktuelle Stunde - Lehren aus den Attentaten in Frankreich

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen reden. Wir können nicht schweigen; denn Schweigen ist keine Option. Wir müssen reden über diesen unglaublichen barbarischen Zivilisationsbruch und was das mit uns allen macht, in Frankreich, aber auch hier. Wir müssen auch reden – und das werde ich tun – über den nichtsdestotrotz zutiefst unanständigen und widerwärtigen Versuch, das für eigene Zwecke zu instrumentalisieren – und nichts anderes ist das Ansetzen der heutigen Aktuellen Stunde.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thomas Ehrhorn [AfD]: Was ist denn da zu instrumentalisieren? Das ist doch Unsinn!)

Wir müssen aber auch über die Fähigkeit oder auch die Unfähigkeit zu trauern reden und über aktuelle Debatten, die wir dieser Tage im Mitte-Links-Bereich in den Feuilletons, in den Zeitungen, in den Magazinen führen. Und wir müssen über die Maßnahmen und unseren Umgang als Gesellschaft mit diesen Terrortaten reden. All das müssen wir tun.

Wir können nicht schweigen über das, was in Nizza passiert ist, was in Dresden und was in einem Vorort von Paris geschehen ist. Es ist überhaupt keine Option, das in irgendeiner Weise zu relativieren, sondern wir müssen in diesem Moment unverbrüchlich an der Seite Frankreichs, der Menschen, der Angehörigen und der Opfer stehen.

(Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir dürfen in keiner Weise graduieren und mutmaßen, warum wer berechtigt sein könnte, sondern Solidarität heißt da, uneingeschränkte, eindeutige, unbedingte Solidarität zu üben und auch deutlich zu machen, dass wir mit unseren Ritualen des Trauerns nicht wirklich ausdrücken können, was das für dieses zerrissene und leidende Land Frankreich bedeutet.

Wir müssen aber auch darüber reden, was Sie, Herr Dr. Curio, gerade versucht haben und was diese Aktuelle Stunde bedeutet; denn es ist nichts anderes als eine erneute Verhöhnung der Opfer.

(Beifall bei der SPD)

Damit machen Sie sich zum Komplizen der Täter, und Sie machen sich zum Komplizen der Salafisten, die diese Taten feiern.

(Lachen bei der AfD – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das ist so was von frech! Das ist eine Mischung aus Dummheit und Unverschämtheit!)

Die Hassprediger im Deutschen Bundestag sind – auch wenn Sie das nicht hören wollen – die besten Komplizen der Hassprediger, die solche Taten ermöglichen und unterstützen.

(Beifall bei der SPD)

Und nicht nur das: Sie sprechen im Titel der Aktuellen Stunde ernsthaft vom Zurückdrängen von Parallelgesellschaften. Wie passt das damit zusammen, dass Sie noch vor wenigen Wochen einen Antrag zu Migrationskosten gestellt haben, dass Sie keine Integrationskurse wollen, dass Sie keine Integrationspolitik wollen und dass Sie möglichst keinen Cent für Geflüchtete ausgeben wollen? Was Sie, wenn Sie das ernst meinen, als politisches Programm wollen, ist die Erzeugung von Parallelgesellschaften, nicht die Bekämpfung von Parallelgesellschaften. Und das nenne ich nichts anderes als scheinheilig und heuchlerisch.

(Beifall bei der SPD – Thomas Ehrhorn [AfD]: Integration ist eine Bringschuld!)

Wir müssen aber auch über die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit zu trauern reden. Kevin Kühnert hat vor kurzem im „Spiegel“ diese Debatte eröffnet, und ich glaube, man muss ernsthaft darüber reden. Ist es so, dass wir – und ich denke, in Teilen trifft das zu – schweigen oder nicht so laut sind, wenn es um islamistische Taten geht? Ich denke, das ist der Fall, und es hat sicher damit zu tun, dass wir nicht Wasser auf die Mühlen der AfD und anderer gießen wollen. Gleichwohl ist das keine Rechtfertigung, leiser zu sein und zu schweigen.

(Zuruf von der AfD: Na denn, nur zu!)

Wir müssen aber auch – das werden Sie nicht so gerne hören – über die Unfähigkeit zu trauern in Bezug auf Hanau sprechen und auf das, was viele Menschen mit Migrationshintergrund oder die sich als muslimisch empfinden, damals gefühlt haben. Denn auch da war dieses Land – anders als Neuseeland – nicht wirklich in der Lage, zu trauern und mit den Opfern zu fühlen.

Das ist es, was, glaube ich, auch an den Einwürfen von Sascha Lobo und anderen zu kritisieren ist. Es kann nicht angehen – und das müssen wir begreifen, wenn wir als Land diese Herausforderung bestehen wollen –, dass sich Menschen muslimischen Glaubens rechtfertigen müssen für das, was diese Täter getan haben. Es geschah nicht in ihrem Namen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Sie waren nicht diejenigen, die Waffen geführt haben. Nein, sie sehen sich in diesem Moment der Situation ausgesetzt – ich habe mit vielen von ihnen gesprochen –, dass sie selber zutiefst Schmerz empfinden und das verurteilen, was passiert ist, und dass sie andererseits Bedrohungen erfahren, angegriffen werden und permanent der Situation ausgesetzt sind, sich erklären und rechtfertigen zu müssen.

So – und damit komme ich zu den Maßnahmen – werden wir das nicht überstehen und schaffen. Es ist eine sicherheitspolitische Frage. Es ist sicher auch eine Sache der Asylpolitik und der Aufarbeitung der Fälle und einer genauen Rekonstruktion dessen, was in Nizza passiert ist. Aber am Ende ist die Frage der Prävention eine wesentliche. Wir werden sie nur dann erfolgreich beantworten, wenn wir auf diese Tat nicht mit weniger Freiheit, sondern mit mehr Freiheit, nicht mit weniger Solidarität, sondern mit mehr Solidarität antworten.

Herr Kollege.

Es wird nur gelingen, indem wir nicht die Musliminnen und Muslime in diesem Land unter Generalverdacht stellen, sondern indem wir ihnen Gleichheit ermöglichen und gemeinsam trauern ob der Taten von Dresden, Nizza und Paris.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank, Helge Lindh. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Petra Pau.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7480729
Wahlperiode 19
Sitzung 187
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde - Lehren aus den Attentaten in Frankreich
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