05.11.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 189 / Tagesordnungspunkt 23

Helge LindhSPD - Verschiebung des Zensus in das Jahr 2022

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht allen hat sich der Zusammenhang dieser beiden Gesetze unmittelbar erschlossen. Das einende Band aber ist so etwas wie das Vetorecht der Realität. Das trifft zu beim Zensus. Ich glaube, allen sollte klar sein, dass man unter den Bedingungen von Corona – mit Verwaltungen, die am Anschlag arbeiten, mit Mitarbeitern aus der Statistik, die in Gesundheitsämtern ganz notwendige und sehr löbliche, Applaus verdienende Arbeit geleistet haben – und in diesem Zusammenhang mit allen anderen Belastungen, die aufgrund der Unmöglichkeit öffentlicher Veranstaltungen und der Schwierigkeit von Hausbesuchen vorliegen, nicht verlässlich einen Zensus realisieren kann. Das ist wohl allen deutlich.

Deshalb ist die einzig richtige und sinnvolle Entscheidung die Verschiebung des Stichtages um ein Jahr – alles andere wäre nicht vernünftig und fahrlässig – und gleichzeitig eine Verordnungsermächtigung, damit, falls wir es noch mit Corona zu tun haben oder andere besondere Ereignisse eintreten sollten, dann die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit dem Bundesrat entsprechende Anpassungen vornehmen kann. Das ist eine notwendige, wichtige, dringliche Gesetzgebung.

(Beifall bei der SPD)

Kommen wir zum Schwerpunkt, dem wahrscheinlich heißer diskutierten Thema, nämlich der aufenthaltsrechtlichen Frage. Auch hier gilt das Vetorecht der Realität. Es geht um eine zielgenaue Regelung, die nicht einfach vom Himmel fiel, sondern die einen klaren Ausgangspunkt hatte: die Entdeckung einer Regelungslücke. Sie wurde deutlich im Fall Miri. Das werden alle hier im Raum erlebt haben.

Der Umstand, dass in dem Fall der Straftäter, der abgeschobene Miri, wieder in Haft kam, lag nicht daran, dass es wirklich hinreichende gesetzliche Möglichkeiten gegeben hätte, sondern das war eine spezifische Konstellation aufgrund eines Asylfolgeantrages. Wir können uns aber nicht auf solche spezifischen Situationen verlassen, und deshalb ist die Schließung dieser Regelungslücke notwendig.

(Beifall bei der SPD)

Worin besteht sie? Es ist der Umstand, dass es Fälle gibt, bei denen ein Einreise- und Aufenthaltsverbot vorliegt, bei denen keine Betretenserlaubnis gegeben ist, bei denen auch Fluchtgefahr besteht, aber folgende Situation eintreten kann: Die betreffende Person ist nicht in Haft und stellt einen Asylantrag. Genau in dem Moment ist eine – in dem konkreten Fall wirklich sinnvolle und gebotene – Abschiebungshaft nach gegebener Rechtslage nicht möglich. Das ist genau die Regelungslücke. Aufgrund dessen, dass die Person nicht vollziehbar ausreisepflichtig ist, kann sie nicht in Haft genommen werden.

Dieses Gesetz regelt nichts anderes, und das ist uns als Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen besonders wichtig gewesen. Es ging uns gerade nicht – da waren wir durchaus erfolgreich in den Verhandlungen – um ein großes neues Migrationspaket, um die weiter gehende Verschärfung von Abschiebung und Abschiebungshaft, sondern um genau diese Fallkonstellation.

Genau deswegen kommt es jetzt zum § 62c Aufenthaltsgesetz. Damit soll eine ergänzende Vorbereitungshaft eingeführt werden; zur Vorbereitung einer Abschiebungsandrohung nach § 34 Asylgesetz ist dann eine solche Abschiebungshaft im Sinne einer Vorbereitungshaft möglich.

Um noch mal etwas zu sagen zu den Aufregungen, die gar nicht so sehr aus der Zivilgesellschaft, sondern aus einzelnen Teilen des Parlaments deutlich wurden: Nicht allein die Tatsache, dass ein Asylantrag gestellt wurde, ist Grund für die Abschiebungshaft; das wäre auch absolut inakzeptabel, und es wäre verfassungs- sowie europarechtlich überhaupt nicht vertretbar. Auch ist dafür nicht die Tatsache ausreichend, dass ein Einreise- und Aufenthaltsverbot vorliegt, sondern es müssen besondere Haftgründe vorliegen, und sie sind auch explizit benannt. Da steht – ich sage das, auch wenn ich jetzt hier womöglich Lachen aus einzelnen Reihen höre – ausdrücklich: „ … wenn von ihm eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht oder er auf Grund eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses … ausgewiesen worden ist.“

Wir reden hier nicht über redliche Leute, die sich nie was haben zuschulden kommen lassen, sondern wir sprechen hier über Gefährder oder zutiefst kriminell aktiv gewordene Personen der organisierten Kriminalität. Ich glaube, das sind nicht die Personen, die im Zentrum unserer humanitären Asylpolitik stehen, sondern bei denen wir den Rechtsstaat zur Geltung bringen müssen, und das ist die Aufgabe dieser Regelungsvorschrift.

(Beifall bei der SPD – Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die Unwahrheit!)

Deshalb – Frau Polat, Sie echauffieren sich wieder so – habe ich doch mit großer Verwunderung wahrgenommen, wie Sie auch im Ausschuss besonders die SPD adressiert haben.

Von zivilgesellschaftlichen Organisationen – ich weiß nicht, wie es Ihnen allen geht – haben mich keine Briefe erreicht, keine großen Klagen, keine Beschwerden. Da frage ich Sie schon: Warum diese Aufregung, übrigens auch an uns gerichtet? Richten Sie sie an die CDU!

(Beifall bei der SPD)

In Nordrhein-Westfalen erlebe ich gerade, dass sich die Grünen sehr um Koalitionen bemühen. Also, das wäre dann der richtige Adressat. Aber Sie müssen schon einmal entscheiden, ob Sie grundsätzlich Abschiebungen infrage stellen, was ja eine vertretbare Position ist, die wir aber nicht teilen, oder ob Sie grundsätzlich dafür sind, wie es Frau Baerbock für Konstellationen unter bestimmten Bedingungen erklärt hat.

Sie müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass das Praxis in Bundesländern mit grüner Regierungsbeteiligung ist; ich kann es nicht ändern.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Otto Fricke [FDP])

Ich muss auch zur Kenntnis nehmen, dass die Wirksamkeit einer besonders liberalen Asylpolitik sich unter grüner Beteiligung in europäischen Ländern bisher nicht wirksam äußert.

(Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!)

Daher ist meine Kritik jetzt nicht, dass Sie eine entweder besonders liberale oder restriktive Position einnehmen. Aber die Doppelgesichtigkeit, die ist mein Kritikpunkt. Wenn man von der SPD etwas fordert und sie anklagt, sie wäre da moralisch fragwürdig und würde humanitäre Regeln verletzen, dann sollte man bitte auch auf sich selbst schauen und solche Inkonsistenzen wahrnehmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP – Otto Fricke [FDP]: Wo er recht hat, hat er recht!)

Das halte ich für notwendig.

Deshalb geht es hier nicht um eine entgrenzte Abschiebung von Personen – nein, wir haben dafür legale Migrationswege; wir haben die Beschäftigungs- und Ausbildungsduldung –, sondern es geht hier darum, dass wir in solchen Fällen von organisierter Kriminalität und Regelungslücken einen bestimmten, –

Würden Sie bitte zum Schluss kommen.

– sehr eng zu umgrenzenden Personenkreis zielgenau erfassen können, und das ist vernünftige, maßvolle und verhältnismäßige Gesetzgebung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7481925
Wahlperiode 19
Sitzung 189
Tagesordnungspunkt Verschiebung des Zensus in das Jahr 2022
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