Christian LindnerFDP - Corona-Maßnahmen
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit dieser Woche gelten wieder empfindliche Einschränkungen der Freiheit. Die Wirksamkeit und die Notwendigkeit einzelner Maßnahmen sehen wir mit Skepsis, beispielsweise die Schließung gastronomischer Betriebe, die über Hygienekonzepte verfügen, die Schließung von Sport- und Freizeiteinrichtungen pauschal, die Schließung von kulturellen Einrichtungen. Aber wir hoffen, dass diese Maßnahmen wenigstens das Ziel insgesamt erreichen: die Eindämmung der Infektionszahlen.
Offen ist aber unverändert, wie es langfristig weitergehen soll. Offen ist, ob uns nicht ein Jo-Jo-Effekt droht, eine Abfolge drastischer Einschränkungen, die wirksam sind, aber nach denen wir, unmittelbar nach ihrer Aufhebung, wieder zum ursprünglichen Zustand zurückkehren.
Eines ist dagegen inzwischen klar: Die Rechtsgrundlagen für die getroffenen Maßnahmen sind wackelig und bedürfen dringend der gesetzlichen Ordnung. Deshalb diskutieren wir heute den vorliegenden Gesetzentwurf und insbesondere einen neuen § 28a im Infektionsschutzgesetz.
Vorweg: Wir als Fraktion halten einige der festgehaltenen Maßnahmen für richtig. Mehr Testmöglichkeiten zum Beispiel sind elementar für den Weg aus dem Lockdown; denn sie bieten die Möglichkeit, Infektionsketten zu durchbrechen und Sicherheit zu geben. Es ist fraglos auch empfehlenswert, die Meldung der Neuinfektionen zu digitalisieren.
Aber Sie zwingen uns durch die unnötige Verlängerung und teilweise sogar Ausweitung der Verordnungsermächtigungen, das alles in eine Klammer zu ziehen. Es gibt keinen Grund, warum wir über ein halbes Jahr nach der Feststellung der epidemischen Lage immer noch im Notfallmodus an der momentanen Verordnungspraxis festhalten und diese hier zum Teil sogar entfristen sollen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)
Seit Wochen gibt es Kritik an der fehlenden Parlamentsbeteiligung und Zweifel an den Rechtsgrundlagen, insbesondere für die Verordnungen der Landesregierungen. Stimmen aus allen Fraktionen, der Herr Bundestagspräsident, Wissenschaftler, Gerichte: Alle äußern Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlagen. Diese Bedenken wurden vergangene Woche noch mit dezibelstarken Argumenten vom Tisch gefegt. Meine Vorgänger würden sich für uns schämen.
(Beifall bei der FDP und der AfD)
Kaum eine Woche später kommen Ihnen dann offenbar doch Bedenken, und Sie legen einen Gesetzentwurf vor. Es ist aber eine Überraschung, dass er nicht etwa zum Ziel hat, das Parlament an der Diskussion um geeignete Maßnahmen der Pandemiebekämpfung zu beteiligen. Nein! Sie legen ein rechtspolitisches Feigenblatt vor, um bereits getroffene Entscheidungen nachträglich zu legitimieren. Das geht hart an die Grenze der Missachtung des Parlaments.
(Beifall bei der FDP und der AfD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wir begrüßen deshalb die Initiative der SPD-Fraktion zur Stärkung des Parlaments. Leider findet sich davon so gut wie nichts in diesem Gesetzentwurf wieder. Wenn Sie dem Gesetz zustimmen, dann wird Ihr Vorstoß, der gerade wenige Tage alt ist, zur Makulatur.
Übrigens: In diesem Zusammenhang irritieren mich manche Äußerungen aus der Fraktion der CDU/CSU, wir wollten Maßnahmen aufheben. Ähnlich hat sich eine Stimme aus der SPD-Fraktion dieser Tage geäußert. Das ist schlicht wahrheitswidrig. Es geht nicht darum, Maßnahmen des Gesundheitsschutzes pauschal aufzuheben. Im Gegenteil: Wir haben bereits mehrfach Vorschläge eingebracht, wie wir die Infektionsschutzmaßnahmen auf eine gesetzliche Grundlage stellen können. Aber die epidemische Lage von nationaler Tragweite gibt Kompetenzen an die Regierung, die sie nicht mehr braucht, und diese sollte sich das Parlament zurückholen. Und genau darum geht es.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)
Dazu brauchen wir unter anderem eine Befristung der epidemischen Lage, damit der Bundestag die Lage regelmäßig neu bewerten kann. Es braucht parlamentarische Erlassvorbehalte, eine Unterrichtungspflicht der Bundesregierung. Der vorliegende Gesetzentwurf liefert dazu leider nichts.
Und er verfehlt zudem deutlich sein Ziel, Rechtssicherheit für die getroffenen Maßnahmen zu schaffen. Es gibt eine breite Aufzählung von Freiheitseinschränkungen; aber es wird nicht klar, welche Maßnahme welche Wirkung hat. Der § 28a unterscheidet zudem zwischen „einfachen“, „stark einschränkenden“ und „schwerwiegenden Schutzmaßnahmen“. Aber an keiner Stelle wird definiert, welche Maßnahme zu welcher Kategorie gehört. Das ist schon handwerklich schlecht gemacht.
(Beifall bei der FDP)
Es ist für niemanden, weder die Verwaltung noch die Bürgerinnen und Bürger, erkennbar, in welcher Lage genau was passieren soll. Der Bestimmtheitsgrundsatz wird nicht beachtet. Anders gesagt: Das schafft keine Rechtssicherheit.
Bundesminister Spahn sagt, es gebe auch andere Indikatoren, um die Situation einzuschätzen. Sie erwähnen als Voraussetzungen für Maßnahmen, Herr Minister, aber allein die Inzidenzzahlen, anders, als Sie es hier eben dargestellt haben. Weitere Indikatoren – wer ist gefährdet? wie ist die Auslastung des Gesundheitssystems? welches Ausbruchsgeschehen gibt es? – kommen gar nicht vor.
Erinnern wir uns: Die Zahl von 50 Fällen pro 100 000 Einwohner ist nicht aus epidemiologischer Sicht entstanden; es ist eine rein politische Setzung, die sich orientiert an der Personalausstattung der Gesundheitsämter. Anders gesagt: Statten wir die Gesundheitsämter besser aus, müsste auch eine andere Zahl von Inzidenz zur Grundlage genommen werden.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD – Zurufe von der LINKEN)
– Wir sind immer für einen starken Staat da, wo wir ihn brauchen; aber überflüssigen Bürokratismus gibt es mit uns nicht.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hansjörg Müller [AfD] – Lachen bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
– Ja, lachen Sie nur; die SPD kann ja lachen. Es geht um Freiheitseinschränkungen für die Menschen und Verfassungsfragen.
Der Schwellenwert von 50 ist im Übrigen recht schnell erreicht; das haben wir gesehen. Damit könnten auch schwerwiegendste Maßnahmen ausgelöst werden.
(Zuruf der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD])
Die Frage der Verhältnismäßigkeit wollen Sie hier quasi als Gesetzgeber vorwegnehmen. Das ist ein Freifahrtschein für Grundrechtseingriffe und Freiheitseinschränkungen, den Sie hier ausstellen wollen.
(Beifall bei der FDP und der AfD)
Auch damit schaffen Sie keine Rechtssicherheit. Dieser Gesetzentwurf ist deshalb in diesen Punkten eine Enttäuschung.
(Beifall bei der FDP – Tino Sorge [CDU/CSU]: Die ganze Rede war eine Enttäuschung! – Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Ja, ja! Privat vor Staat – von euch erfunden!)
Susanne Ferschl, Die Linke, ist die nächste Rednerin.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7481965 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 190 |
Tagesordnungspunkt | Corona-Maßnahmen |