06.11.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 190 / Tagesordnungspunkt 27

Georg NüßleinCDU/CSU - Corona-Maßnahmen

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Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Noch im Sommer waren für viele – da nehme ich mich gar nicht aus – die Statistiken, die da täglich zu Corona veröffentlicht wurden, sehr abstrakt. Inzwischen sind wir in einer Situation, wo jeder von uns Betroffene mit langanhaltendem Geschmacksverlust kennt, mit der Problematik, in einer intensivmedizinischen Behandlung zu stecken, oder welche, die wie beispielsweise der Vater einer Mitarbeiterin von mir ohne Vorerkrankungen an dieser schlimmen Krankheit verstorben sind.

Nun kann man an der Stelle tatsächlich diskutieren: Ist das so schlimm? Passiert das nicht eben? Ist das nicht einfach Lebensrealität? Aber, meine Damen und Herren, der Maßstab unserer Gesundheitspolitik in Deutschland ist schon immer gewesen, dass wir keine Triage im Sinne von Rationierung wollen, dass wir nicht wollen, dass man als Arzt entscheiden muss, wer weiterleben darf und wer sterben muss. Und das ist eigentlich das Ziel, das hinter unseren Maßnahmen steckt. Denn wenn Sie sich anschauen, mit welcher Dynamik die Zahl der intensivmedizinisch beatmeten Menschen tatsächlich anwächst, dann wissen Sie, wie groß der Handlungsdruck an der Stelle ist. Die Menschen, meine Damen und Herren, die da betroffen sind, wundern sich über unsere juristische Diskussion an der Stelle.

Herr Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sichert?

Gern.

Herr Kollege.

Sie haben gerade gesagt, dass es darum geht, dass man eine Überlastung der Krankenhäuser verhindern möchte. Jetzt haben Sie aber hier einen Gesetzentwurf vorgelegt, der ohne Definition von irgendwelchen Voraussetzungen, irgendwelchen Belastungen der Krankenhäuser oder sonst was völlig willkürlich letztlich die Regierung ermächtigen soll, massive Grundrechtseinschränkungen vorzunehmen.

(Karin Maag [CDU/CSU]: Stimmt doch einfach nicht!)

Wir haben bis heute im Land flächendeckend keinerlei Obduktionen von Coronapatienten. Warum beschaffen Sie denn nicht erst mal die ganzen Informationen und schreiben konkrete Voraussetzungen hinein?

Wir haben momentan nur einen kleinen Prozentsatz der Intensivstationen mit Coronapatienten belegt. Wir wissen nicht mal, wie viele von denen, die unter Corona laufen, tatsächlich wegen Corona dort liegen oder ob die Leute auf den Intensivstationen liegen, weil sie wegen einer anderen Krankheit dort liegen und nur coronapositiv getestet sind; denn alle, die in irgendeiner Weise coronapositiv getestet werden, werden dort erfasst. Genauso läuft jeder, der coronapositiv erfasst wurde und stirbt, als Coronatoter, auch wenn er an einer anderen Krankheit stirbt.

Warum sorgen Sie nicht dafür, dass wir endlich mal Informationen und Aufklärung bekommen, was eigentlich die Grundlage unserer Arbeit als Parlament ist?

Herr Kollege.

Warum sagen Sie nicht: „Wir haben hier eine Information, und auf dieser Basis können wir Entscheidungen treffen“?

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sich konzentrieren ist nicht so Ihres, oder?)

Also, das verstehe ich jetzt nun beim allerbesten Willen nicht: Als ob es darauf ankäme, ob man nur wegen oder auch wegen Corona auf der Intensivstation liegt!

(Widerspruch bei der AfD)

Entscheidend ist doch, dass am Schluss tatsächlich diese Plätze genau für diese Menschen gebraucht werden. Sie können doch nachvollziehen, wie diese Zahl steigt: Wir hatten im April dieses Jahres 2 850 Coronapatienten intensivmedizinisch behandelt. Wir hatten am 1. Oktober 362 Coronapatienten, die intensivmedizinisch behandelt wurden; jetzt, am 5. November, waren es 2 653 Coronapatienten. Das ist die Zahl, nach der Sie suchen. Die können Sie nachlesen, die finden Sie raus.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Niema Movassat [DIE LINKE]: Die AfD kann nicht lesen!)

Das hat der Minister richtig gesagt: Wenn das mit der Dynamik so weitergeht, dann sind das in zwei Wochen doppelt und dreifach so viele. Dann sind wir irgendwann an dem Punkt, wo Sie entscheiden müssen, wen Sie weiterbehandeln und wen Sie nicht weiterbehandeln, und das müssten Sie dann vertreten. Dafür sind Sie offenkundig, weil Sie sagen: Lassen Sie es laufen, schauen wir mal, was passiert; das wird schon irgendwie gut gehen. – Nur geht das offenkundig nicht gut.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Zahlen sind doch da, meine Damen und Herren. Es ist doch nicht so, dass das eine Erfindung von der Mehrheit des Parlaments und übrigens auch von der Mehrheit der Menschen, die das Ganze mittragen, ist. Das ist doch nicht wahr. Sie sehen doch, wie ansteckend das Virus ist. Ich habe vorhin versucht, Ihnen klarzumachen, dass es auch eine persönliche Betroffenheit gibt. Sie müssen es doch auch erleben. Stirbt in Ihrem Umfeld niemand? Ist da niemand schwer krank? Liegt niemand aus Ihrem Umfeld auf der Intensivstation?

(Zurufe von der AfD: Nein! Nein!)

– Vielleicht kennen Sie zu wenige Leute und sind zu weit weg von den Bürgern; das kann sein.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Krux ist aber, dass Sie es nicht sehen wollen. Ihre Idee ist offenkundig: Sie wollen diejenigen, die sich für unverwundbar halten und sagen: „Wir sind nur ökonomisch beschwert“, einsammeln, weil es für eine kleine Partei wie Ihre nur darum geht, ein paar Prozentpunkte hinzuzugewinnen; darum geht es Ihnen. Wir müssen jedoch Politik in der Breite für die Menschen machen.

(Beifall des Abg. Alexander Dobrindt [CDU/CSU])

Die Volksparteien müssen genau das vertreten und dafür sorgen, dass es den Menschen in der Breite gut geht, und dürfen nicht nur versuchen, Abtrünnige einzusammeln; das ist der Punkt. Sie brauchen auch nicht so zu tun, als ob Sie für bestimmte Leute da wären. Wir kümmern uns genauso gut um diejenigen, die sich hier beschweren.

(Beifall des Abg. Alexander Dobrindt [CDU/CSU])

Wir haben uns hier darauf verständigt, nicht zu tief in die Wirtschaft einzugreifen.

(Zuruf von der AfD: Tut ihr aber!)

Wir haben uns des Weiteren darauf verständigt, die Schulen und die Kinderbetreuung offenzuhalten. Also müssen wir am Schluss in den Freizeitbereich eingreifen. Auch dort gibt es natürlich relevante Wirtschaftsunternehmen. Diese werden gestützt und finanziert; das werden Sie sehen. Aber dazu kommt von Ihnen kein Wort.

Im Übrigen werden die Entscheidungen nicht nur hier getroffen. Vielmehr entscheiden die Menschen auch selber. Schauen Sie es sich an: Schon bevor wir Maßnahmen ergriffen haben, waren die Gaststätten leer. Die Debatte, die Sie über die Parlamentsbeteiligung führen, ist eine Scheindebatte, in der Sie eigentlich nur zugeben, dass die Opposition in der jetzigen Situation nicht so gefragt ist, wie Sie es gern hätten; das ist doch der Punkt.

Um noch zu Herrn Lindner zu kommen. Wir bessern mit § 28a des Infektionsschutzgesetzes nicht etwa nach. Wir rechtfertigen nichts im Nachhinein, überhaupt nicht. Das tun wir an dieser Stelle nicht. Vielmehr sehen wir ganz klar, dass mit dem Fortschreiten der Pandemie, der langen Dauer und der Verschärfung der Situation die Anforderungen an den Parlamentsvorbehalt wachsen. Das ist übrigens der Leitsatz des Gerichtsurteils, das Sie zitiert haben. Und deshalb bessern wir nicht nach, sondern sorgen dafür, dass wir auch in Zukunft, selbst wenn die Pandemie leider länger dauern sollte, als wir uns alle das wünschen, eine Grundlage haben.

Herr Kollege Nüßlein, der Kollege Hampel würde auch noch gerne eine Zwischenfrage stellen.

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Nein, das muss nicht sein! – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Nein!)

Noch eine von der AfD? – Ich weiß ja, dass Sie für Facebook Vorlagen brauchen.

Lassen Sie es zu?

Mache ich, ja.

Herr Kollege Hampel.

Danke schön, Herr Präsident. Danke schön, Herr Kollege, dass ich Ihnen die Frage stellen darf. – Sie haben es ja selber angesprochen, und es ist ja Tenor hier im Hause: Es ist ein massiver Eingriff in die Grundrechte der Bürger in diesem Land. Sie ruinieren ganze Wirtschaftszweige: Tourismus, Gastronomie, Hotellerie etc. Jetzt komme ich zu einem Punkt, der etwas beinhaltet, was von Anfang an in unserem Land und anderswo im Grunde genommen nie infrage gestellt wurde. Schon nach den chinesischen Erkenntnissen war erkennbar, dass 85 Prozent der Infizierten von dieser Krankheit entweder leicht betroffen waren oder gar keine Symptome hatten. Das wurde nie bestritten; das wurde auch nie angezweifelt. Wir wissen, dass 15 Prozent schwer erkranken und teilweise auch an Leib und Leben gefährdet sind. Wir wissen auch, wer das ist: die alten Menschen und die Vorerkrankten.

(Saskia Esken [SPD]: Nein!)

Jetzt erklären Sie mir: Muss es nicht Aufgabe einer Bundesregierung sein, als Allererstes genau auf diese Gruppe zu fokussieren und die Pflege- und Altenheime – und zwar professionell – sicher zu machen mit geschütztem Personal etc. und die Vorerkrankten über die Krankenkassen entsprechend zu informieren? Ist nicht das die Methode, an die wirklich gefährdeten Personen in diesem Lande heranzugehen, bevor ich zum zweiten Mal das ganze Land in der Wirtschaft auf null schalte und ungeheuren Schaden anrichte?

(Beifall bei der AfD)

Herr Kollege Hampel, Ihre Frage ist klar geworden. Der Kollege Dr. Nüßlein wird sie jetzt beantworten.

Danke schön, Herr Präsident.

Ich stelle zunächst einmal fest, dass Sie bemerkenswerterweise die Zahlen kennen.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ein Fortschritt!)

Das ist ja schon mal spannend und gut zu wissen. Bei der nächsten Gelegenheit werden Sie es sicherlich wieder bestreiten. Das ist das Erste.

Das Zweite ist: Schauen Sie sich doch einmal die Zahlen an, und machen Sie es nicht ganz so abstrakt. Wie viele Menschen in Deutschland sind über 60 Jahre alt? 30 Prozent. Dann nehmen Sie noch die dazu, die irgendwelche Vorerkrankungen haben. Allein an Diabetes leiden 9 Millionen bis 10 Millionen Menschen hier im Land. Es gibt sicherlich eine gewisse Schnittmenge. Aber nehmen Sie da mal noch etliche dazu. Dann sind Sie am Schluss relativ schnell bei über 40 Prozent der Menschen, die massiv gefährdet sind.

(Widerspruch bei der AfD)

Dann multiplizieren Sie die 40 Prozent mit Ihren 15 Prozent; dann kommen Sie weiter. Es ist doch schön, wenn man rechnen kann.

Sie haben die Zahlen, rechnen aber nicht weiter. Sie denken nicht in die Zukunft. Und dann werden auch Sie am Schluss zu dem Ergebnis kommen, dass wir nicht einfach so tun können, als ob es nur eine ganz kleine Gruppe in den Pflegeheimen gäbe, die wir nur ausreichend isolieren müssten, und das Problem wäre gelöst. Das ist doch eine Scheinlösung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir kümmern uns natürlich auch um diese Menschen. Wir sorgen dafür, dass entsprechende Hygienekonzepte da sind. Wir sehen trotzdem gleichzeitig, wie groß der Wunsch ist, noch besucht und auch betreut zu werden.

Jetzt ist die Frage beantwortet, und die Redezeit läuft weiter.

Das alles ist schon ziemlich scheinheilig, was Sie da aufführen. Sie tun so, als ob man da kleine punktuelle Eingriffe machen könnte, und das Problem wäre gelöst. Man kann das so tun, und vielleicht verfängt das bei dem einen oder anderen. Aber am Schluss sind wir hier als die Fraktionen, die die Regierung tragen, verantwortlich für das, was passiert. Dafür schaffen wir die Grundlage, auch gesetzlich.

Natürlich diskutieren wir über die Maßnahmen. Natürlich schaffen wir an dieser Stelle eine Ermächtigungsgrundlage. Aber am Schluss geht es darum, dass die Exekutive jetzt gefragt ist, übrigens nicht nur auf Bundesebene, sondern ganz besonders auf Landesebene, bis hinunter zu den Landräten, die übrigens – das möchte ich auch mal sagen – gemeinsam mit den Gesundheitsämtern einen hervorragenden Job machen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sorgen dafür, dass sie das qualifiziert und gut tun können, ohne Panik zu machen, aber schon mit der Zielsetzung, dass wir hier im Bundestag wenigstens die Problematik ernst nehmen und sachlich, fachlich vernünftig miteinander diskutieren.

Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Nächste Rednerin ist die Kollegin Beatrix von Storch, AfD.

(Beifall bei der AfD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7481969
Wahlperiode 19
Sitzung 190
Tagesordnungspunkt Corona-Maßnahmen
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