06.11.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 190 / Tagesordnungspunkt 27

Thorsten FreiCDU/CSU - Corona-Maßnahmen

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich die Anträge der Oppositionsfraktionen in dieser Debatte mit Titeln wie „Rechtsstaat und Demokratie in der Corona-Pandemie“, „Demokratische Kontrolle auch in der Pandemie“ anschaut, wenn man sich manche Reden zu diesem Tagesordnungspunkt anhört, dann könnte man glauben, dass wir unmittelbar vor dem Kollaps des demokratischen Systems in Deutschland stünden.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: „Nehmen wir uns Amerika mal zum Vorbild“, sagt die AfD! – Hansjörg Müller [AfD]: Genauso ist es!)

Es ist nicht nur irreführend, es ist auch wirklich unredlich, so zu argumentieren. Wir haben es mehrfach bewiesen, indem wir allein in dieser Woche mehrere Debatten haben, in denen wir uns mit den unterschiedlichen Folgen der Coronapandemie und der angemessenen demokratischen Antwort darauf beschäftigen.

(Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Sie sollten einmal Ihren eigenen Parlamentspräsidenten ernst nehmen!)

Also: Seit 71 Jahren stehen in unserer Verfassung Rechte, auch Rechte der Minderheiten, und diese Rechte können Sie wahrnehmen.

(Susanne Ferschl [DIE LINKE]: Sie haben es nicht verstanden!)

Ich fordere Sie auf, das zu tun. Sie tun es ja auch; das zeigen die vielen Debatten, die wir nicht nur im Plenum, sondern auch in den unterschiedlichen Ausschüssen, in den öffentlichen Expertenanhörungen, in den Regierungsbefragungen und auch an vielen anderen Stellen haben.

(Susanne Ferschl [DIE LINKE]: Haben Sie nicht zugehört?)

Die Debatte findet hier im Parlament statt. Hier gehört sie hin; da haben Sie vollkommen recht. Deswegen ist es irreführend, und es ist auch falsch, wenn Sie so tun, als wäre dies nicht so.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Fragen Sie doch mal den Dr. Schäuble!)

Ich will an dieser Stelle sagen, dass der Bundesgesundheitsminister gerade eine, wie ich finde, sehr bemerkenswerte Rede gehalten hat, weil er auch deutlich gemacht hat, dass es nicht so ist, dass wir glauben würden, wir hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen – anders als vielleicht in der einen oder anderen Fraktion.

Wir können all das, womit wir hier jetzt konfrontiert sind, nicht bis zum Ende denken. Es ist tatsächlich so, dass wir ein Stück weit auf einer Terra incognita unterwegs sind. Wenn man in einem unbekannten Land ist, dann ist es mit Sicherheit auch nicht klug, sich in ein vorgefertigtes Betonbett zu legen und sich jede Flexibilität zu nehmen, um dann nicht mehr auf eine solche dynamische Krisenlage angemessen reagieren zu können.

Deswegen ist es für uns ein Spagat, den wir versuchen müssen, den wir auch hinbekommen müssen: Wie schaffen wir es, dass wir zum einen alle wesentlichen Punkte, insbesondere alle wesentlichen Grundrechtseingriffe, selbstverständlich hier in diesem Parlament diskutieren und dafür den Rahmen schaffen, und zum anderen der Regierung und auch denen vor Ort, den unmittelbar zuständigen Gesundheitsbehörden, die Flexibilität belassen, um auf diese Krise und die damit verbundenen Herausforderungen angemessen reagieren zu können? Diesen Spagat müssen wir hinbekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das tun wir, indem wir die Schutzmaßnahmen nach Feststellung einer epidemischen Lage nationaler Tragweite – § 5 Infektionsschutzgesetz – in den neu geschaffenen § 28a Infektionsschutzgesetz ziehen. Der Deutsche Bundestag bestimmt also weiterhin die Voraussetzungen dafür, ob diese Möglichkeiten bestehen, ob diese Rechte ausgeübt werden können oder eben nicht. Und der Deutsche Bundestag hat natürlich auch jederzeit die Gelegenheit, diese Regelung wieder zurückzunehmen.

Herr Kollege Frei, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

(Dr. Manuela Rottmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bitte nicht!)

Selbstverständlich.

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulassen. – Ich habe mir den Gesetzentwurf angeschaut. In § 28a Absatz 1 steht ganz am Ende der bemerkenswerte Satz:

Die Anordnung der Schutzmaßnahmen muss ihrerseits verhältnismäßig sein.

Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es lässt schon tief blicken, dass Sie meinen, dass man das extra ins Gesetz hineinschreiben muss; aber nun gut, es ist ja schön so.

Wir haben jetzt eine ganze Reihe von Maßnahmen, die aus meiner Sicht völlig unverhältnismäßig sind: Restaurants werden geschlossen trotz Hygienekonzepten, Kultureinrichtungen werden geschlossen trotz Hygienekonzepten. Deshalb meine Frage: Werden Sie – wenn Sie dieses Gesetz verabschieden, wahrscheinlich gegen unsere Stimmen – nach Inkrafttreten des Gesetzes diese ganzen unverhältnismäßigen Maßnahmen auch wieder aufheben?

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Haha!)

Herr Kollege, ich teile Ihre Auffassung überhaupt nicht. Wir haben an ganz vielen Stellen gesehen, dass all die Maßnahmen, die die Landesregierungen ergriffen haben, auch verhältnismäßig waren.

(Zuruf des Abg. Uwe Witt [AfD])

Dort, wo sie von Gerichten aufgehoben wurden, ist es ganz offenkundig so gewesen, dass eine Begründung nicht hinreichend war oder es andere Mängel gab. Das muss man selbstverständlich verbessern und ändern; das ist überhaupt keine Frage. Aber es ist mitnichten so, dass die Maßnahmen, die zwischen den Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin besprochen und von den Landesregierungen in den Rechtsverordnungen umgesetzt worden sind, in Gänze nicht den rechtlichen Vorgaben entsprechen würden.

Ich will Ihnen sagen, worum es uns beim § 28a geht: Uns geht es darum, dass wir die Generalklausel durch klare Regelbeispiele erweitern, dass wir einen Rahmen dafür setzen, wo entsprechende – auch schwerwiegende -Grundrechtseingriffe möglich sind. Es geht darum, dass wir uns als Parlament damit beschäftigen und dass wir schauen, wie wir einen Rahmen setzen können, der es der Regierung auch im Einzelfall erlaubt, angemessene Regelungen zu finden, wenn die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind. Wir wissen alle nicht, welche Maßnahmen in Zukunft noch notwendig sein werden. Deshalb müssen wir uns diese Flexibilität erhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir werden uns in der nächsten Woche intensiv mit diesem Gesetzentwurf auseinandersetzen, auch im Rahmen einer öffentlichen Expertenanhörung. Natürlich werden wir dort über viele Dinge miteinander sprechen müssen. Aber von einem rechtspolitischen Feigenblatt zu sprechen ‑wie Herr Lindner; ich hätte ihn gerne angesprochen –, ist grottenfalsch. Wer so tut, als ob unbestimmte Rechtsbegriffe in unseren Gesetzen nichts verloren hätten, der kennt sich mit Gesetzgebung wirklich nicht aus.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Natürlich brauchen wir unbestimmte Rechtsbegriffe, um flexibel auf Herausforderungen reagieren zu können. Dass der Gesetzgeber Generalklauseln mit Regelbeispielen oder auch Standardmaßnahmen ausformuliert und auch ausbuchstabiert, ist doch ganz normal. Sie tun so, als wäre es das erste solche Gesetz, das wir hier im Deutschen Bundestag verabschieden würden. Das ist mitnichten so.

Herr Kollege Frei, der Kollege Dr. Neumann möchte gern noch eine Zwischenfrage stellen.

(Dr. Andrew Ullmann [FDP]: Ullmann!)

Bitte schön, das kann er gerne tun.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Vielleicht sagt er mal, wo der Fraktionsvorsitzende ist! Das würde uns interessieren!)

Darf er, ja?

Ja, selbstverständlich.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Er möchte seine Redezeit verlängern!)

Sicherlich nicht. – Ullmann ist mein Name; Sie haben „Neumann“ gesagt.

Oh, ich bitte um Nachsicht. Trotzdem hat der Kollege Frei zugestimmt, dass Sie eine Zwischenfrage stellen dürfen. Ich bitte um Entschuldigung, ich habe so viel Mitleid mit Ihnen gehabt, weil Sie eine Redezeit von nur einer Minute hatten.

Herzlichen Dank. – Herr Frei, Sie sind Jurist, ich bin Mediziner. Vielleicht können Sie mir zwei Punkte erklären. Sie haben gesagt, Sie hätten es nicht zu Ende gedacht, wir seien hier in einer Terra incognita. Was ich nicht ganz verstehe, ist das Wort „verhältnismäßig“. Für mich ist die Logik etwas ganz Wichtiges. Auch der Kollege Schinnenburg hat es gerade gesagt: Es werden Restaurants geschlossen, obwohl sie ein Hygienekonzept haben, obwohl dort keine Superspreader-Events stattfinden. Das ist ein Punkt, bei dem ich nicht verstehen kann, dass das verhältnismäßig sein soll. Viele KMUs sind von § 28a des Gesetzentwurfs betroffen, sie werden geschlossen. Aber in dem Gesetzentwurf steht nichts von Entschädigung. Das irritiert mich auch ein bisschen, dass wir einfach Betriebe schließen können. Welche Folgen sehen Sie für diese KMUs durch diesen Paragrafen?

Herr Dr. Ullmann, zunächst einmal möchte ich darauf hinweisen, dass wir überall dort, wo wir durch staatliche Maßnahmen wirtschaftliche Einschränkungen bewirkt haben, ein entsprechendes Hilfsprogramm aufgelegt haben und auflegen, das passgenaue Lösungen bietet. Das werden wir immer dann tun, wenn es notwendig ist, wenn durch staatliche Entscheidungen in freie Entscheidungen des Einzelnen eingegriffen wird.

Jetzt können wir darüber sprechen, wie wir im Hinblick auf die einzelnen Formulierungen und unbestimmten Rechtsbegriffe vielleicht noch etwas mehr Klarheit schaffen können. Dafür sind wir offen; deswegen machen wir eine Expertenanhörung. Ich habe Ihnen vorhin gesagt: Wir haben nicht das Gefühl, dass wir die Weisheit mit Löffeln gefressen haben; vielmehr wollen wir versuchen, gute Lösungen – auch für die Zukunft – zu finden. Das kann im Übrigen durchaus bedeuten – das will ich an dieser Stelle gleich sagen –, dass wir noch nicht am Ende der Gesetzgebung angekommen sind. Vielleicht müssen wir weiter nachschärfen, weil wir nicht wissen – und Sie im Übrigen auch nicht und alle anderen hier auch nicht –, wie sich diese Pandemie weiterentwickeln wird.

Es gibt keine Zeitzeugen, die eine solche Pandemie – vor hundert Jahren die Spanische Grippe oder in den 50er-Jahren die asiatische Grippe – schon einmal erlebt haben. Wir brauchen diese Flexibilität. Bei den Gerichtsentscheidungen wird Verhältnismäßigkeit nicht nur danach definiert, wie tief der Grundrechtseingriff ist, sondern natürlich auch danach, wie lange er dauert. Auch vor diesem Hintergrund kann es durchaus sein, dass wir uns die einzelnen Maßnahmen hier im Parlament weitere Male werden anschauen und gegebenenfalls nachsteuern und nachschärfen müssen. Das kann niemand von uns ausschließen.

Danke für die Antwort, Herr Kollege Frei. – Jetzt läuft Ihre Redezeit, die im Übrigen zu Ende ist.

Jeder, der das suggeriert, Herr Kollege Ullmann, streut den Menschen Sand in die Augen. Das wollen wir nicht; denn wir setzen auf Transparenz, Offenheit, auf Vertrauen in die Maßnahmen des Staates, weil wir in dem festen Glauben sind, dass das die Grundvoraussetzung dafür ist, dass wir gemeinsam diese pandemische Krise bewältigen können. Deshalb gehen wir diesen Weg und scheuen keine Debatte hier im Parlament.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir diskutieren alles hier in diesem Parlament: die gesundheitlichen Folgen, die sozialen Folgen, die wirtschaftlichen Folgen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Damit schließe ich die Aussprache.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7481975
Wahlperiode 19
Sitzung 190
Tagesordnungspunkt Corona-Maßnahmen
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