Christian LindnerFDP - Corona-Maßnahmen (epidemische Lage)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten diesen Gesetzentwurf im Zusammenhang mit konkreten Maßnahmen. Anfang November sind einschneidende Freiheitseinschränkungen befristet für diesen Monat beschlossen worden. Wenige Tage, im Grunde Stunden nachdem diese eigentlich befristeten Maßnahmen beschlossen worden sind, wurde bereits aus der Spitze der Regierungskoalition infrage gestellt, ob diese Befristung tatsächlich Bestand haben kann.
Am Montag dieser Woche wollte das Bundeskanzleramt selbst noch zusätzliche Freiheitseinschränkungen, ohne dass die bisherigen Beschränkungen bei Gastronomie, Kultur, Sport und Freizeiteinrichtungen konkret analysiert worden wären. Durch solche raschen Veränderungen von Positionen, Einschätzungen und Ankündigungen stellt man das unverändert große Vertrauen der Bevölkerung in die Politik unnötig auf die Probe.
(Beifall bei der FDP)
Unverändert fehlt eine dauerhaft durchhaltbare Risikostrategie. In den Beschlüssen von Bund und Ländern am Montag gibt es aber bereits eine Richtungsweisung. Wir haben bereits vor Monaten vorgeschlagen, besonders von gesundheitlichen Risiken Betroffenen FFP2-Masken zur Verfügung zu stellen.
(Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Das ist richtig!)
Wir begrüßen, dass die Regierung diesen Schritt jetzt geht; aber es müsste konsequenter erfolgen. Wir müssen die vulnerablen Gruppen konsequent schützen; denn das wäre ein Baustein, um Freiheits- und Gesundheitsschutz besser auszubalancieren als bisher.
(Beifall bei der FDP)
Das neue Infektionsschutzgesetz leistet zu einer durchhaltbaren Risikostrategie leider nur wenige Beiträge, etwa mit Blick auf die Teststrategie oder die Digitalisierung. Wir lehnen es aber insbesondere wegen seines § 28a ab. Er ist im Kern eine Aufzählung von Freiheitseinschränkungen. Diese Grundrechtseingriffe müssten nach dem Prinzip „Wenn-dann“ klar einer konkret definierten Situation zugeordnet werden.
(Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Richtig!)
Nur dann können die Menschen staatliches Handeln einschätzen. Nur dann wissen auch Landesregierungen und Kommunen, welche Maßnahme in welcher Lage zu ergreifen ist. Es ist ein schweres Versäumnis von Union und SPD, dass diese klare Zuordnung unterlassen wird.
(Beifall bei der FDP)
Wie notwendig sie wäre, hat sich am Sonntag und Montag ja gezeigt: Bund und Länder haben sich beispielsweise über die Frage der Halbierung des Schulunterrichts zerlegt. In der Sache wie vom Verfahren her war das Vorgehen des Kanzleramtes fragwürdig. Wieder Millionen Familien im Stich zu lassen und gerade den Schwächsten ihr Bürgerrecht auf Bildung zu nehmen, das ist weder sinnvoll noch notwendig.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])
Aber vor allem hat sie am Montag gezeigt, dass die gemeinsame Bewertungsgrundlage für die Lage und ein Verständnis über eine angemessene Reaktion fehlen. Wir, das Parlament, können in einer dynamischen Lage nicht täglich neu beurteilen. Aber wir können und wir müssen die Entscheidungen der Regierungen lenken und ihnen klare Leitplanken geben, wenn in Grundrechte eingegriffen wird. Der Entwurf von Union und SPD gibt der Regierung aber keine Leitplanken vor, sondern er stellt – im Gegenteil – einen Freifahrschein aus.
(Beifall bei der FDP – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das sehen wir anders!)
Im Übrigen auch: Die alleinige Orientierung an der Zahl von 50 Infektionen pro 100 000 Einwohner ist willkürlich gegriffen. Sie spiegelt nur die aktuelle Personalsituation der Gesundheitsbehörden wider.
(Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Sehr richtig!)
Auch andere Kriterien müssen berücksichtigt werden, um die pandemische Lage einschätzen zu können. Insbesondere nach Verfügbarkeit eines Impfstoffs und der Impfung besonders gefährdeter Personen wird sich auch die Bewertung der Pandemie ändern. Die praktische Tauglichkeit Ihres Gesetzesvorschlags hat deshalb eine viel zu geringe Halbwertszeit.
(Beifall bei der FDP)
Zudem unterscheidet sich das Pandemiegeschehen regional. In Schleswig-Holstein gibt es andere Zahlen als in Bayern; deshalb muss ein regional differenziertes Vorgehen weiter möglich sein. Es kann eine Lage eintreten, in der auch empfindliche Grundrechtseingriffe nötig sind, empfindlichere sogar als im Moment. Es fehlt aber die Möglichkeit, dass sich beispielsweise Betriebe durch eine behördlich genehmigte Hygienekonzeption von Beschränkungen befreien können. Für Gastronomie und Kultur wäre das eine Chance auf Öffnung.
Stattdessen gibt es in der Aufzählung von Union und SPD sogar überflüssige Maßnahmen wie eine allgemeine Ausgangssperre für Menschen. Vom Vor-die-Tür-Treten geht aber kein Infektionsrisiko aus. Halten Sie das im Normtext tatsächlich für erforderlich, selbst wenn es nur als Ultima Ratio gemeint ist? Für uns wäre Hausarrest für Menschen prinzipiell unverhältnismäßig, und deshalb sollte diese Maßnahme besser gar nicht im Gesetz erwähnt werden.
(Beifall bei der FDP)
Zu diesem und zu anderen Aspekten haben wir Ihnen konkrete Vorschläge unterbreitet. Es wäre im allgemeinen Interesse, wenn sich die politische Debatte schließlich auf Entscheidungen in der Sache und nicht schon auf die Rechtsgrundlage konzentrieren könnte. Im Frühjahr hatte sich die Regierungskoalition noch um Gemeinsamkeiten mit der Opposition bemüht. Jetzt, im Herbst, gab es nicht einmal ein Gesprächsangebot von Union und SPD, Herr Brinkhaus.
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das ist jetzt aber glatt gelogen, Herr Lindner!)
Das ist die Entscheidung des zuständigen Fachministers und der Regierungsfraktionen. Es gibt auch keine Verpflichtung für Sie, den Austausch mit der Opposition zu suchen. Aber die Suche nach Gemeinsamkeiten hier im Haus, das wäre zugleich ein Beitrag zur Befriedung eines gesellschaftlichen Konflikts gewesen.
(Beifall bei der FDP)
Nächster Redner ist der Kollege Jan Korte, Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7484236 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 191 |
Tagesordnungspunkt | Corona-Maßnahmen (epidemische Lage) |