18.11.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 191 / Tagesordnungspunkt 1

Jens Spahn - Corona-Maßnahmen (epidemische Lage)

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Pandemie ist ein Jahrhundertereignis.

(In den Reihen der AfD werden Plakate hochgehalten – Zuruf: Herr Präsident! – Weitere Zurufe)

Herr Bundesminister, ich darf Sie einen Moment unterbrechen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Parlament tragen wir unterschiedliche Meinungen mit Argumenten aus – sie mögen gut oder schlecht sein –, aber wir tragen sie nicht mit Transparenten und ähnlichen Dingen aus.

(Zuruf von der CDU/CSU: Schämt euch!)

Deswegen ist meine dringende Bitte – das ist jetzt eine Bitte; ich kann es aber auch gleich so entscheiden –: Bitte entfernen Sie diese Plakate unverzüglich!

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie sie nicht entfernen, muss ich Sie zur Ordnung rufen. Also bitte: Legen Sie sie weg!

(Abg. Detlev Spangenberg [AfD] hält eine Ausgabe des Grundgesetzes hoch – Zuruf von der CDU/CSU: Peinlich, peinlich! – Weitere Zurufe)

Wenn wir uns alle ans Grundgesetz halten, ist das gut.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU], an die AfD gewandt: Zwischendurch auch mal reingucken!)

Jetzt entfernen Sie die Plakate!

Das Wort hat der Bundesminister Jens Spahn.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Pandemie ist ein Jahrhundertereignis, ein Naturereignis, ja, gleichsam eine Naturkatastrophe. Sie ist eine Zumutung und eine Bewährungsprobe. Sie ist schicksalhaft über uns gekommen in unserer modernen, komplexen Zeit.

(Zuruf von der AfD: Schicksalhaft!)

In dieser Jahrhundertpandemie ist klar: Egal was wir tun oder ob wir nichts tun: Es entsteht Schaden. Egal was wir entscheiden oder ob wir gar nicht entscheiden: Es entsteht Schaden. Die Frage ist: Wo entsteht welcher Schaden? Es geht um wirtschaftlichen Schaden für viele einzelne Bürgerinnen und Bürger und für die Volkswirtschaft; es geht um sozialen Schaden, menschliche Härten und Ausnahmesituationen; es geht um gesundheitlichen Schaden, Leid und Tod. Wir müssen nun gewichten, Prioritäten setzen, abwägen.

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sichert?

Nein, Herr Präsident, ich möchte meine Rede jetzt gerne im Gesamtzusammenhang halten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bitte.

Wir müssen nun gewichten, Prioritäten setzen, abwägen und tun dies seit Beginn der Pandemie. Die Wissenschaft kann uns beraten, liefert Fakten und Einschätzungen; aber kein Virologe, kein Infektiologe, kein Mikrobiologe, kein Professor Drosten und auch kein Professor Bhakdi kann uns die Aufgabe abnehmen, diese Entscheidungen zu treffen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir im Deutschen Bundestag und in der von ihm legitimierten Regierung müssen gewichten, welchen Schaden wir wo wie ertragen wollen und ertragen können. Der Schutz der Gesundheit gilt dabei nicht absolut. Ja, er ist mit anderen Grundrechten abzuwägen; aber die körperliche Unversehrtheit steht übrigens auch in diesem Grundgesetz, das Sie gerade hochgehalten haben. Ist Ihnen das Leid – davon habe ich gar nichts gehört, Herr Gauland – auf den Intensivstationen, in den Krankenhäusern, in den Familien, von denjenigen, die Langzeitschäden haben, egal?

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das ist kein Argument, Herr Spahn!)

Das ist doch die Frage, die sich stellt.

Der Schutz der Gesundheit gilt nicht absolut; aber wir haben entschieden, dass der Schutz der Gesundheit in dieser Pandemie ein relativ stärkeres Gewicht bekommt. Wir haben uns entschieden, mit großer Mehrheit entschieden, in der Gesellschaft und hier im Parlament, dass wir keine Überforderung unseres Gesundheitssystems akzeptieren wollen. Leid durch Krankheit, Intensivmedizin, Beatmung und Tod können wir zwar nicht absolut vermeiden, aber wir wollen dieses Leid bestmöglich reduzieren. Steigende Infektionszahlen – an dieser praktischen Erkenntnis führt auch die spannendste theoretische Debatte nicht vorbei – führen in unserer alternden Gesellschaft bei den Eigenschaften dieses Virus früher oder später zu steigendem Leid auf unseren Intensivstationen und zum Kontrollverlust bei exponentiellem Wachstum.

Und um das zu vermeiden, müssen die Infektionszahlen runter, und vor allem müssen sie in ihrer Entwicklung unter Kontrolle bleiben. Ja, wir haben mit den aktuellen Maßnahmen Tritt gefasst, wir haben das exponentielle Wachstum gestoppt; aber wir sind noch nicht über den Berg. Und als Bundesminister für Gesundheit sage ich Ihnen, dass ich diese Gewichtung, diese starke Ausrichtung auf bestmöglichen Gesundheitsschutz in dieser Pandemie weiterhin richtig finde.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Da aber nichts absolut gelten kann, auch nicht der Schutz der Gesundheit, geht es um die richtige Balance, das richtige Austarieren. Um diese Balance ringen wir doch alle jeden Tag, jeder in seinem Alltag, wir als Gesellschaft und wir in der politischen Vertretung und Führung dieses Landes. Es geht darum, wirtschaftliche Härten abzufedern und durch Hilfe, Unterstützung, Konjunkturpakete erträglich zu machen. Es geht darum, jeden Tag mehr und besser dieses Virus beherrschen zu können: durch die AHA-Regeln, durch das Reduzieren von Kontakten, durch neue und mehr Testmöglichkeiten und immer bessere Schutzkonzepte, durch neue und bessere Medikamente, und ja, als entscheidenden Schritt zur tatsächlichen Kontrolle über dieses Virus vor allem auch durchs Impfen. Und weil ja schon wieder anderes behauptet wird, auch in den sozialen Medien: Ich gebe Ihnen mein Wort: Es wird in dieser Pandemie keine Impfpflicht geben. Hören Sie endlich auf, anderes zu behaupten!

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gleichzeitig macht es doch Mut, es gibt Zuversicht – es ist Licht am Ende des Tunnels –,

(Andreas Bleck [AfD]: Licht am Ende des Tunnels?)

dass wir in diesen dunklen Novembertagen ernsthaft damit rechnen können, dass es so schnell einen Impfstoff geben wird wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Impfen ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Absolut!)

Impfen vermeidet jeden Tag unzähliges Leid und Krankheit. Impfen ist Fortschritt im besten Sinne,

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

und es macht mich ein Stück stolz, dass der erste Impfstoff, der Wirksamkeit zeigt, aus Deutschland kommt und hier entwickelt worden ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind, meine Damen und Herren, bis hierhin gut durch diese Krise gekommen – im Vergleich mit der Situation in anderen Ländern, auch in dieser zweiten Welle. Und ich frage mich manchmal schon: In welchem anderen Land wären Sie eigentlich lieber? Keines unserer Nachbarländer hat mit milderen Mitteln diese Pandemie unter Kontrolle bekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wo wären Sie eigentlich lieber als in der Bundesrepublik Deutschland? Das würde mich manchmal schon interessieren.

Dass wir bis hierhin vergleichsweise gut durch diese Pandemie gekommen sind, auch in dieser zweiten Welle, ist vor allem so, weil die allermeisten Bürgerinnen und Bürger auf sich und ihre Mitmenschen achten und sie schützen, und es ist so, weil die große Mehrheit der Deutschen unsere Politik mitträgt.

Und ja, nicht wenige zweifeln,

(Zuruf des Abg. Andreas Bleck [AfD])

hadern, haben Sorgen oder Bedenken. Und doch tragen auch sie in großer Mehrheit den grundsätzlichen Ansatz unserer Politik und die Entscheidungen mit.

Und ja, Lautsein, Dagegensein, sogar das Offensichtliche leugnen – all das ist möglich und muss möglich sein in einem freien, offenen Land. Aber wer laut ist, ist deswegen noch lange nicht im Recht und schon gar nicht nur wegen seiner Lautstärke in der Mehrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Michael Theurer [FDP])

Debatte ist nötig, Kontroverse ist nötig, aber doch nicht unerbittlich und voller Härte, sondern so, dass wir zusammenbleiben. Zusammenhalt ist das, was dieses Land am meisten braucht in dieser Pandemie. Ihre Rede war jedenfalls kein Beitrag zum Zusammenhalt in diesem Land, Herr Gauland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen weiter gut durch diese Krise kommen. Dafür müssen wir uns immer wieder der Lage anpassen. Das Virus ist dynamisch; wir müssen es auch sein.

(Lachen bei Abgeordneten der AfD)

Daher nun das dritte Bevölkerungsschutzgesetz in neun Monaten, das uns in dynamischer Lage die rechtliche Grundlage gibt, mit diesem Virus noch besser umzugehen. Wir als Bundesregierung und die Landesregierungen brauchen in dieser Pandemie die Befugnisse und Instrumente, zu handeln und zu entscheiden – zum Schutz und zum Wohle unserer Bürgerinnen und Bürger. Diese Befugnisse und diese Instrumente können uns nur von dem vom deutschen Volk gewählten Bundestag gegeben werden, und darum bitten wir Sie heute.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Zuruf von der AfD: Ermächtigung!)

Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort dem Kollegen Martin Sichert, AfD.

Personen

Dokumente
Beschlussempfehlung und Bericht
Drucksache 19/24334
a) zu dem Gesetzentwurf der CDU/CSU und SPD - Drucksache 19/23944 - Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite b) zu dem Antrag der Abgeordneten Detlev Spangenberg, Dr. Robby Schlund, Paul Viktor Podolay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD - Drucksache 19/22547 - Eindimensionale Beratung vermeiden, multiprofessionalen Sachverstand sicherstellen - Einberufung einer parlamentarisch bestätigten Epidemiekommission zur Erarbeitung klarer wissenschaftlich fundierter Kriterien bezüglich der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite und deren Aufhebung c) zu dem Antrag der Abgeordneten Detlev Spangenberg, Dr. Robby Schlund, Paul Viktor Podolay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD - Drucksache 19/22551(neu) - Erneute Forderung der Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite und Sicherstellung der parlamentarischen Kontrolle d) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gottfried Curio, Martin Hess, Dr. Bernd Baumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD - Drucksache 19/23949 - Umgehung des Parlaments bei Corona-Maßnahmen beenden - Beschlüsse des Corona-Gipfels vom 28. Oktober 2020 rückgängig machen e) zu dem Antrag der Abgeordneten Detlev Spangenberg, Dr. Robby Schlund, Paul Viktor Podolay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD - Drucksache 19/23950 - COVID-19 - Eigenverantwortung statt Verbote und Zwänge - Gesundheitlichen und wirtschaftlichen Kollaps verhindern, Kollateralschäden vermeiden f) zu dem Antrag der Abgeordneten Konstantin Kuhle, Christine Aschenberg-Dugnus, Stephan Thomae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP - Drucksache 19/23689 - Infektionsschutzmaßnahmen auf eine klare gesetzliche Grundlage stellen - Demokratie und Parlamentarismus stärken g) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Achim Kessler, Susanne Ferschl, Gökay Akbulut, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. - Drucksache 19/23942 - Demokratische Kontrolle auch in der Pandemie h) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Manuela Rottmann, Britta Haßelmann, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drucksache 19/23980 - Rechtsstaat und Demokratie in der Corona-Pandemie
von: Ausschuss für Gesundheit

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Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7484239
Wahlperiode 19
Sitzung 191
Tagesordnungspunkt Corona-Maßnahmen (epidemische Lage)
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