13.01.2021 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 203 / Tagesordnungspunkt 1

Christian LindnerFDP - Regierungserklärung zum Impfbeginn in Deutschland und Europa

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine hohe Zahl von Neuinfektionen, viele schwere Krankheitsverläufe, leider auch viele Sterbefälle, die zu beklagen sind, und nun auch noch eine Mutation des Virus. Wer die Realität erkennt, der kann die Gefährlichkeit dieser Pandemie nicht leugnen, der darf sie auch nicht relativieren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Unverändert sind wir alle aufgerufen, Vorsicht walten zu lassen, Rücksichtnahme zu üben, die Regeln zu achten. Und jede und jeder Einzelne von uns kann seinen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie dadurch leisten, dass wir mit unseren Freiheiten verantwortungsbewusst umgehen, um diese Prüfung zu bestehen.

Die Impfung ist eine große Chance, zur Normalität zurückzukehren; das war uns allen immer klar. Die segensreiche Innovation kommt aus Deutschland, aus Rheinland-Pfalz. Zum Glück haben sich jene nicht durchsetzen können, die schon vor 20 Jahren die Gentechnologie aus Deutschland zurückdrängen wollten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Seit Monaten hätte man einen Impfstart vorbereiten können und müssen. Tatsächlich aber sind die Logistik und das Tempo beschämend. Dass die Bundeskanzlerin gestern davon gesprochen hat, dass erst im zweiten Halbjahr hinreichend viel Impfstoff verfügbar sein wird, zeigt, dass der Impfstart verstolpert worden ist.

(Beifall bei der FDP)

Der Bundesgesundheitsminister hat auf die EU verwiesen. Sein europäisches Bekenntnis teilen wir. Wir hätten es uns auch im Frühjahr gewünscht, als Deutschland einseitig die Lieferung von Hilfsprodukten in der EU gestoppt hat. Wir hätten uns auch gewünscht, dass es nicht eigens eine Intervention des Kanzleramts gebraucht hätte, um auf einen europäischen Beschaffungsprozess zu setzen.

Aber wenn man über Europa spricht, muss man fragen, warum die Europäische Union auf der einen Seite 750 Milliarden Euro für Wirtschaftshilfe aufwendet und auf der anderen Seite bei der Beschaffung von Impfstoff knausert.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])

Wer auf die Europäische Union verweist, der muss sich die Frage gefallen lassen, warum auch dort die Bestellmenge immer nur nach und nach – bis in diese Tage – erhöht wird. Und nicht zuletzt: Wer auf Brüssel zeigt, der muss auch die Frage beantworten, warum die deutsche Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 nicht Einfluss genommen hat auf eine hinreichende Beschaffung von Impfstoff.

(Beifall bei der FDP)

Jens Spahn hat gefordert, Vertrauen entgegenzubringen. Diese Bitte um Vertrauen fand ich bemerkenswert, insbesondere nach dem Redebeitrag der Kollegin der SPD. Die Bitte um Vertrauen ist bemerkenswert vor dem Hintergrund, dass der Vizekanzler gewissermaßen ein Misstrauensvotum in Form eines Fragenkatalogs über den Kabinettstisch gereicht hat.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Falsch!)

Und wenn am Ende die Bundeskanzlerin den Impfprozess teilweise an sich zieht, dann ist das auch kein Beleg dafür, dass alles so gut läuft.

(Beifall bei der FDP)

Das muss alles aufgeklärt werden. Aber eines ist schon jetzt klar: Bei der Forderung nach Opfern und Freiheitseinschränkungen ist die Regierung besser als bei kreativem Handeln und bei im besten Sinne unternehmerischer Initiative.

Nun müssen wir uns darauf konzentrieren, dass das Tempo der Impfungen erhöht wird. Wir haben schon vor Wochen angeregt, einen Dialog mit der deutschen Pharmaindustrie darüber zu führen, was getan werden kann, um die Kapazitäten zu erhöhen. Das wurde erst zurückgewiesen. Dann hat es sich der bayerische Ministerpräsident zu eigen gemacht, dann hat es die SPD gefordert. Und am 7. Januar dann hat Herr Spahn einen Brief an die Pharmaindustrie geschrieben. Wir begrüßen, dass Sie es sich zu eigen gemacht haben. Nun müssen den Worten aber auch Taten folgen.

(Beifall bei der FDP)

Wir haben noch andere Anregungen. Wir haben viele logistische Probleme vor Ort. Es muss geklärt werden, wie der niedergelassene Bereich möglichst bald in den Impfprozess eingebunden wird. Deshalb ist die Forderung unverändert richtig, auf einem Impfgipfel Bund, Länder, Kommunen, Wohlfahrtspflege, den niedergelassenen Bereich und die pharmazeutische Industrie zusammenzubringen, um Ideen und Möglichkeiten auszuloten.

Der nächste Rückschlag droht nun; denn die Sachverständigen betrachten die Rechtsverordnung zur Bestimmung der Impfpriorisierung als nicht hinreichend: Es könnten Menschen, die jetzt nicht an der Reihe sind, dagegen klagen. Davor haben wir bereits im Dezember gewarnt, und wir haben einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht. Das haben Sie in den Redebeiträgen seinerzeit zurückgewiesen.

Nun aber fordert der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, man brauche ein parlamentarisches Begleitgremium, um quasi im Nachhinein doch über ein neues Gremium Legitimation herbeizuführen. Wir haben einen anderen Vorschlag: Geben Sie sich einen Ruck, und sorgen Sie dafür, dass in der nächsten Sitzungswoche in der zweiten Beratung unser Entwurf für ein Impfgesetz beschlossen wird. Dann hätten wir Rechtssicherheit.

(Beifall bei der FDP)

Was die Kollegin der SPD gesagt hat – Aufklärung statt Impfpflicht für das pflegerische Personal –, kann man nur unterstreichen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade sind neue Verschärfungen in Kraft getreten: ein Bewegungsradius von 15 Kilometern, der auch verfassungsrechtliche Fragen aufwirft und der eine krasse Ungleichbehandlung von ländlichem Raum und Ballungsgebieten darstellt, sowie die Regel „ein Haushalt plus eine Person“, die in der Praxis inhuman sein kann, wenn die Großeltern nicht gemeinsam zu Besuch kommen können oder wenn Kinderbetreuung in Nachbarschaftshilfe unmöglich gemacht wird. Da wäre die schleswig-holsteinische Regelung, die bisher galt, besser gewesen. Schulen und Kitas sind geschlossen. Die Verzweiflung in der Wirtschaft wächst.

In dieser Situation sagte die Kanzlerin – informell – gestern in einer internen Sitzung, man müsse sich auf acht bis zehn weitere Wochen der Härte einstellen, vielleicht gar bis Ostern. Das ist eine verstörende Perspektive, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Auch bei einer nationalen Kraftanstrengung geht einer Gesellschaft irgendwann die Puste aus. Wir können das Land nicht über Monate im Lockdown halten.

Deshalb ist unsere Forderung, dass wir nun gemeinsam an Öffnungsperspektiven arbeiten, an einem Wirkungsmechanismus, an Wenn-dann-Szenarien, wo regional unter welchen Bedingungen wieder geöffnet werden kann.

(Zurufe von der CDU/CSU)

– Entschuldigung, wenn sich die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU über diese Frage so echauffieren: Der Bewerber um den Vorsitz der CDU Friedrich Merz sagte vorgestern, der Punkt, dass es nicht mehr weitergeht, sei jetzt schon erreicht. „ Schnell raus aus dem Lockdown, möglichst schnell zurück zum normalen Wirtschaften mit Hygienekonzept“, so Friedrich Merz. Ich bin gespannt auf die Machtauseinandersetzungen zwischen Konrad-Adenauer-Haus und Bundeskanzleramt, wenn der Bundesparteitag im Sinne von Herrn Merz entscheiden sollte – Konjunktiv; ist ja Ihre Sache.

Beklemmend ist die Lage bei den Sterbezahlen. Es wurde uns lange gesagt, die vulnerablen Gruppen können nicht geschützt werden. Frau Bundeskanzlerin, wir hatten zu der Frage hier eine Auseinandersetzung. Wir haben vorgeschlagen, FFP2-Masken auszugeben – Wochen später erst umgesetzt. Wir haben Teststrategien vorgeschlagen – erst im Januar Bestandteil der Bund-Länder-Beschlussfassung. Zögerlich wurden die Vorschläge umgesetzt. Bis heute ist kaum vermittelbar, dass Ski- und Rodelpisten besser kontrolliert werden als der Zugang zu Alten- und Pflegeheimen.

Und nun, in dieser Situation, wird Herr Brinkhaus heute in der „FAZ“ mit einem Satz zitiert: Es müsse gefragt werden, „ob wir darauf in den vergangenen Wochen angemessen reagiert haben“, also auf die Situation im Bereich der stationären Pflege. Herr Brinkhaus, Ihre rhetorische Frage will ich beantworten: Nein, Sie haben nicht angemessen reagiert. Es war ein Politikversagen mit Anlauf und mit Ansage.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)

Wir brauchen nun alternative Strategien: Schutz der Risikogruppen, auch durch Taxigutscheine, auch durch die Möglichkeit, exklusive Zeitfenster beim Einkaufen zu haben – wir haben das vielfach hier vorgeschlagen –, die Beschleunigung des Impfens, ein regionaler Zugang. Und vielleicht sollten wir tatsächlich Markus Söders Forderung nach einer Pflicht zum Tragen von FFP2-Masken sorgfältig prüfen.

(Zurufe von der AfD)

Auch dies hatte ich im Dezember – Frau Merkel, Sie erinnern sich – an diesem Pult schon vorgeschlagen als mildere Alternative zum kompletten Schließen des Handels. Nun schlägt Herr Söder es vor, und ich bin dafür, dass wir ein verpflichtendes Tragen von den besonders schützenden FFP2-Masken im öffentlichen Raum prüfen. Wir müssen prüfen, ob wir die Kosten dafür steuerlich abzugsfähig machen oder über die Bundesagentur für Arbeit auf den Regelsatz beim ALG II mit aufnehmen oder ob eine Erstattung – finanziert auch aus Bundeszuschuss – in der gesetzlichen Krankenversicherung möglich ist. Das kann man alles diskutieren. Aber das Ziel muss sein: Wenn Pflicht zum Tragen von FFP2-Masken, dann Zug um Zug mit dem Wiedereröffnen von Handel, gesellschaftlich-kulturellem Leben, Kitas und Schulen

(Mechthild Rawert [SPD]: Nein!)

und am Ende auch der Gastronomie.

(Beifall bei der FDP)

Zuletzt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir haben gesehen, dass die Novemberhilfen immer noch nicht ausgezahlt worden sind und dass im Nachhinein die Rechtsgrundlagen verändert worden sind, sodass ein neuer Antrag gestellt werden muss. Das ist für viele, die jetzt um ihre wirtschaftliche Existenz bangen und keine Hilfe haben, eine Tragödie, gerade wenn Frau Merkel die Ansage macht: vielleicht noch weitere zehn Wochen. – Die Auszahlung der Hilfen muss schneller und besser erfolgen.

Vor allen Dingen aber: Geben Sie innerhalb der Bundesregierung endlich Ihren Widerstand gegen den vollen Verlustrücktrag des Jahres 2020 in die Vorjahre auf. Denn das wäre über die Finanzämter eine schnell mögliche Überlebenshilfe für unseren Mittelstand, der vom Ertrinken bedroht ist.

(Beifall bei der FDP)

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Karin Maag, CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7495528
Wahlperiode 19
Sitzung 203
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung zum Impfbeginn in Deutschland und Europa
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