Christian LindnerFDP - Jahreswirtschaftsbericht 2021
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am letzten Dienstag ist ein Streitgespräch zwischen Minister Altmaier und mir im „Handelsblatt“ erschienen, und in dieser Begegnung hat Herr Altmaier einmal mehr sein wirtschaftspolitisches Wirken und die Wirksamkeit der Hilfen der Bundesregierung gelobt. Die Leserinnen und Leser mussten nur ein paar Seiten weiterblättern, und da lasen sie den dringenden Appell des Unternehmers Thomas Althoff, der sich um sein Lebenswerk betrogen fühlt, weil Hilfen nicht fließen.
Gestern stellt Peter Altmaier den Jahreswirtschaftsbericht vor, und zeitgleich meldet sich Herr Jerger, der Geschäftsführer des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft, zu Wort und spricht davon, diese Bundesregierung befinde sich in einem konjunkturpolitischen Winterschlaf. Heute stellt sich Peter Altmaier hierhin und spricht von einem robusten Wachstum, und heute lesen wir in den Zeitungen vom baden-württembergischen Unternehmer Roland Mack, bei dem gar nichts an Hilfen angekommen ist und der gar keine Möglichkeiten hat, Hilfen in Anspruch zu nehmen. Herr Kollege Altmaier, die Wahrnehmung, die Sie haben, und die Realität im Land klaffen immer weiter auseinander. Diese Schere sollten Sie schließen.
(Beifall bei der FDP)
Nun sprechen Sie hier tatsächlich von einer robusten Wachstumsperspektive, gar von einem Aufschwung. Herr Altmaier, das mag technisch natürlich stimmen, weil wir bestimmte Branchen haben, die enorme Marktanteile gewinnen – ich denke an den Onlinehandel –, aber die Kehrseite werden wir möglicherweise in einigen Monaten in unseren Innenstädten beobachten können. Wir haben viele Unternehmen, die sich fragen, ob sie überhaupt noch eine Fortsetzungsperspektive haben; denn die von Ihnen gerade gerühmte Aufhebung der Insolvenzantragspflicht, das Kurzarbeitergeld, das Hoffen auf Hilfen hält diese Unternehmen noch in einer Schwebelage. Aber die verdeckten Risiken in der Deutschlandbilanz werden von Tag zu Tag größer. Deshalb ist jetzt entschlossenes Handeln erforderlich.
(Beifall bei der FDP)
Dazu haben wir Ihnen in den vergangenen Monaten wiederholt Vorschläge gemacht:
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Genau!)
unser Kollege Christian Dürr, glaube ich, schon im April des vergangenen Jahres mit der dringenden Mahnung, den steuerlichen Verlustrücktrag möglich zu machen, das heißt, die Verluste des Jahres 2020 oder 2021 mit der Steuerschuld der Vorjahre zu verrechnen. Herr Altmaier, Sie haben diese Idee heute für sich mit reklamiert und verweisen dann auf die SPD. Man muss also doch öffentlich fragen: Was hält die Sozialdemokratie ab, dieses Instrument einzusetzen? Es bedeutet eine schnelle Liquiditätshilfe für die gesamte Wirtschaft, ohne dass dem Staat irgendeine Einnahme entgeht; denn ansonsten würden die Verluste in die Zukunft getragen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)
Der einzige Unterschied ist: Es würde in Zukunft noch Betriebe geben und nicht viel mehr Pleiten.
Mein Kollege Michael Theurer hat bei so vielen Gelegenheiten über Ihre Überbrückungshilfen gesprochen. Die Überbrückungshilfe III, die dem Handel im Dezember helfen sollte, kann man heute, im Januar, noch nicht beantragen, Herr Altmaier. Trotzdem erwähnen Sie sie hier. Also müssen wir doch hier über andere Instrumente nachdenken. Kollege Theurer hat gestern noch vorgeschlagen, mindestens auch rückwirkend zu ermöglichen, sich nicht an Umsatz und Fixkosten usw. zu orientieren, sondern – ganz einfach – das Betriebsergebnis der Vorjahre zur Grundlage zu machen und dann Hilfe unbürokratisch und schnell auszuzahlen.
(Beifall bei der FDP)
Mein Kollege Johannes Vogel hat so oft über Soloselbstständige gesprochen, die diese Bundesregierung auf die Hartz IV-Behörde verweist, statt einen Unternehmerlohn auszuzahlen, der im Übrigen nicht nur eine Frage der wirtschaftlichen Sicherung, sondern auch des Respekts wäre.
(Beifall bei der FDP)
All das finden wir bei Ihnen gegenwärtig nicht. Heute Morgen lese ich in den Tickern, dass Minister Jens Spahn jetzt offen ist für einen Impfgipfel. Wir haben hier im Haus schon länger vorgeschlagen, mit allen Beteiligten an einen Tisch zu kommen und zu schauen, was noch zu retten ist; gestern auch Herr Woidke, der SPD-Ministerpräsident von Brandenburg, heute die Umkehr bei Herrn Spahn. Offensichtlich sind viele Erwartungen, die geäußert worden sind, nicht so eingetroffen. Es hieß zum Beispiel wochenlang: Nein, kein anderes pharmazeutisches Unternehmen kann BioNTech-Impfstoffe produzieren. – Genau das macht nun Sanofi. Es macht also Sinn, mit der Branche, übrigens auch mit dem niedergelassenen Bereich, mit den Landkreisen zusammenzukommen und zu schauen, wie schneller geimpft werden kann.
(Beifall bei der FDP)
Gut, dass es diese Wende bei Herrn Spahn gibt. Herr Altmaier, Herr Scholz, wir würden Sie aber nicht auf Urheberrechtsschutz verklagen, wenn Sie in der Wirtschafts- und Finanzpolitik auch andere Ideen von uns aufnehmen würden.
(Beifall bei der FDP – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist ja hochanständig!)
Vor allen Dingen – das ist ja klar – brauchen wir eine Perspektive auf Öffnung. Schleswig-Holstein hat nun einen Vorschlag für einen Perspektivplan gemacht, der nach einer klaren Wenn-dann-Regel die Öffnung von Kitas und Schulen, dann auch von Handel und Gastronomie ermöglicht. Ich verhehle nicht: Ich glaube, dass man mit innovativen Maßnahmen wie Luftreinigern und dem Einsatz der Bundeswehr und von Freiwilligen noch ambitionierter vorgehen könnte als die Koalition in Kiel. Aber – auch an Sie, Frau Bundeskanzlerin, gerichtet –: Wenn sich eine Koalition von CDU/CSU, Grünen und FDP mit allen Kompromissen auf einen Perspektivplan verständigt, dann ist das richtungsweisend für die ganze Republik und sollte es auch für Ihr Handeln im Bund sein.
(Beifall bei der FDP – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das hätten Sie im Bund haben können!)
Und nun schauen wir nach vorne: Wie kommen wir aus der Situation heraus? Es gibt Vorschläge aus der Union, die Schuldenbremse zu modifizieren, also: höhere Schulden mit der Union. Aus der SPD gibt es den Vorschlag, die Steuern zu erhöhen und auf ein Konjunkturprogramm zu setzen.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Genau!)
Die Grünen haben sich mit ihrem Grundsatzprogramm auf beides verständigt, also: höhere Schulden und höhere Steuern. Warum versuchen wir es nicht einfach mit einer wachstums- und wirtschaftsfreundlichen Politik –
(Beifall bei der FDP)
ohne höhere Schulden auf Dauer, ohne höhere Steuern? Das tut not. Der Kollege Brinkhaus hat vor einer Woche völlig zu Recht gesagt: Im Grunde müsste noch in diesem Sommer gehandelt werden. – Die Europäische Union unterstreicht das, weil sich Deutschland selbst für die Partizipation am EU-Aufbaufonds noch nicht qualifiziert hat wegen der Defizite bei der Digitalisierung im Bereich Bildung und – höre und staune! – wegen der zu hohen Steuer- und Abgabenlast. Also sollten wir hier ansetzen, und das rasch.
(Beifall bei der FDP)
Stattdessen gibt es – damit komme ich zum Schluss – ein buntes Füllhorn – auch heute wieder – von unterschiedlichen Investitionen und Maßnahmen, Programmen und Progrämmchen hier und dort. Diese Programme haben einen Mangel: Oft genug fließt das Geld nicht ab. Aus dem Konjunkturprogramm, das im vergangenen Jahr mit 10 Milliarden Euro ausgestattet worden ist, sind bis dato erst 800 Millionen Euro abgeflossen.
Man kann auch nicht immer sicher sein, dass man auf das richtige Pferd setzt. Wir werden ja sehen, was der Zukunftsantrieb sein wird. Ist es vielleicht der batterieelektrische Antrieb – manches spricht dafür –, oder ist es mindestens teilweise nicht auch der Verbrennungsmotor mit synthetischem Kraftstoff, von dem in Baden-Württemberg viele Arbeitsplätze abhängen, wobei diese Technologie durch die Euro-7-Norm erschwert wird? Also: Man kann es politisch seitens einer Regierung nicht wissen. Deshalb wäre es sinnvoll, durch Bürokratieabbau, geringere Energiekosten, Entlastung bei den Steuern die Angebotsbedingungen für die Wirtschaft zu verbessern, damit wir als Investitionsstandort attraktiv werden.
(Beifall bei der FDP)
Tagesschau.de schreibt gestern in einem Porträt über den Bundeswirtschaftsminister angesichts seiner vielen Subventionen, Programme und Progrämmchen, er sei kein Ludwig Erhard. Lieber Herr Altmaier, ich weiß nicht, wie Sie dazu stehen, ob Sie sich selbst in der Tradition von Ludwig Erhard sehen oder nicht; andere tun es nicht. Eines wissen wir aber: Einen Ludwig Erhard, der sich um Standortbedingungen bemüht, den könnte unser Land heute gut gebrauchen.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Bruno Hollnagel [AfD])
Jetzt erhält das Wort der Kollege Dr. Carsten Linnemann, CDU/CSU.
(Beifall bei der CDU/CSU – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Guter Mann! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So, jetzt aber ein paar Vorschläge, nicht wie gestern Opposition!)
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Electoral Period | 19 |
Session | 206 |
Agenda Item | Jahreswirtschaftsbericht 2021 |